Im medialen Diskurs über die Ukraine ist nach dem ersten Erschrecken eine gewisse Verlegenheit eingetreten. Sie verdeckt eine Angelegenheit, die eine österreichische und darüber hinaus eine europäische ist. Dass der "Fall" der Ukraine kein Thema im EU-Wahlkampf ist, hierzulande und auch anderswo, ist erstaunlich genug. Denn eigentlich wissen wir alle, dass der reale und symbolische Nervenkrieg gegen die Ukraine weit über die Versorgung mit Gas hinaus unsere eigenen Agenden betrifft.
Hierzulande ist seit Wochen eine "Neutralisierung" der Berichterstattung zu vermerken, die sich merklich von jener in Deutschland und der Schweiz unterscheidet. In einer renommierten österreichischen Tageszeitung bekam gar der russische Botschafter in Österreich prominenten Platz, um die faschistischen Märchengeschichten Wladimir Putins in Umlauf zu bringen. Mit Sympathisanten, die an diese Märchen glauben wollen, ist überall zu rechnen. Einer Heerschar von zumeist anti-europäisch gestimmten Putin-Verstehern von links bis rechts, von Le Pen und Strache bis zur deutschen "Linken", ist daran gelegen, dass wir uns in dem Konflikt zwischen dem russischen Aggressor, der sich ungeniert ein Stück Territorium nach dem anderen einverleibt, und jenem Land, das ihm beinahe schutzlos preisgegeben ist und in dem es zarte Pflänzchen hin zu einer Entwicklung zur Zivilgesellschaft gibt, mindestens neutral verhalten. Das ist moralisch schändlich und beschädigt die europäische Idee. Neutralität ist eine politische und militärische Kategorie, keine ethische.
Nun stimmt es ganz sicher, dass die Ukraine seit der Unabhängigkeit kein Glück mit ihren Politikern hatte, von denen nicht wenige den Stallgeruch kommunistischer Apparatschiks oder den Duft des Neureichtums verströmten. Aber immerhin haben viele junge weltoffene Menschen in diesem Land zweimal einen Anlauf hin zu einer liberalen Demokratie unternommen. Ihnen haben wir niemals einen Weg nach Europa angeboten. Sie verdienen unsere Solidarität ebenso wie die demokratische Opposition in Russland. Stattdessen konzentrieren sich die Medien hierzulande auf die Kritik an der ukrainischen Regierung, die nicht mit Leuten verhandeln möchte, die selbst nicht verhandeln wollen, sondern mit Gewalt und mit dem starken Bruder im Rücken Realitäten schaffen wie schon auf der Krim.
Jüngst war die hiesige Presse zu Recht empört über homophobe Auslassungen russischer Politiker im Zusammenhang mit dem europäischen Song Contest. Die gleiche Empörung würde man sich indes angesichts der paramilitärischen Kriegsführung Russlands gegen die Ukraine wünschen. Zwischen der Verletzung der Menschenrechte im Inneren und jener Verletzung des Völkerrechts besteht ein logischer Zusammenhang.
Zu den Beschwichtigungsstrategien dieser Tage gehört auch die Warnung vor historischen Analogien. Analogien sind stets schief, jedoch zugleich erhellend. Natürlich ist Putin nicht Hitler, aber seine Vorgehensweise, die ja schon in Georgien und Moldawien zum Tragen gekommen ist, besteht darin, wie Hitler, Breschnew oder Milosevic ethnische Minderheiten oder politische Sympathisanten zu Speerspitzen im Kampf gegen die Nachbarn zu machen.
Ohne diese üblen gewaltpolitischen Tricks, ohne die Aufrüstung von Minderheiten, wäre es 1938 niemals zum "Anschluss" Österreichs und auch nicht zur Zerschlagung der Tschechoslowakei gekommen. Putins Politik zielt auf eine Subversion eines ungeschriebenen Gesetzes nach 1945, nämlich - Eckstein der europäischen Friedensordnung - auf die Revision auch von "ungerechten" Grenzen zu verzichten. Nebenbei bemerkt ist die Krim durch einen Gebietstausch mit damals ukrainischem Gebiet zur Ukraine gekommen.
Die Situation der Ukraine ist brandgefährlich, nicht nur weil vor unseren Augen ein Land, dessen Regierung es wagt, sich in Richtung Europa zu entwickeln, mitten im Frieden ausgeweidet und zerlegt wird, sondern auch, weil der Zusammenhalt der EU in Mitleidenschaft gezogen wird. Jene Länder, die leidige Erfahrungen mit dem russischen Imperium haben, fühlen sich von uns im Stich gelassen, und sie werden darauf reagieren, indem sie nationalistische Regierungen ans Ruder bringen und den Einfluss der USA stärken, die ihnen als verlässlicherer Garant ihrer Eigenständigkeit und ihrer demokratischen Errungenschaften erscheinen als die EU.
Für die Zurückhaltung Europas gibt es zwei triftige Gründe, die enorme ökonomische Interdependenz und die Angst vor der Eskalation der Gewalt. Aber damit hat es gegenüber einem Machthaber, der auf der Welle der nationalen Begeisterung schwimmt, elend schwache Karten. Wir leben erfreulicherweise in pazifistischen Gesellschaften. Das darf uns nicht daran hindern, es einem Aggressor, der von einem mittlerweile hemmungslosen, aber gerissenen Macht-Junkie angeführt wird, möglichst schwer zu machen, gerade, um die Eskalation der Gewalt einzudämmen. Wenn Putin dieses Spiel gewinnt, dann bedeutet das nicht unbedingt die Wiederherstellung einer postsowjetischen autoritären Friedensordnung und damit die Wiederholung des Kalten Krieges, vielmehr könnte die Aggression auf den Aggressor zurückschlagen und Regime wie Reich hinwegspülen.
Es geht gegen die EU
Die Kosten - etwa für den Erhalt der (Rest-)Ukraine - werden EU und USA zu zahlen haben. Diese kann man nur dann gering halten, wenn Europa mit einer Stimme spricht, momentane wirtschaftliche Einbußen hinnimmt und wirksam auftritt, um der russischen Aggression Grenzen zu setzen. Die EU hat noch immer nicht verstanden, dass Putins Kriegserklärung sich nicht nur an die "westliche" Ukraine, sondern auch an das erfolgreichste europäische Projekt aller Zeiten richtet: die EU. Verhandlungen und neue Wiener Kongresse sind gut, wenn die Politik ein gutes Blatt im Poker mit einem unangenehmen Machthaber in der Hand hält. (Wolfgang Müller-Funk, DER STANDARD, 17.5.2014)