Als kurz nach dem Fall des Regimes von Saddam Hussein erstmals nach Jahren Hunderttausende irakische Schiiten zur großen Wallfahrt nach Kerbala strömten, sprach man von einer riesigen Machtdemonstration. Schon im Jahr 1991 hatte US-Präsident George Bush senior aus Angst vor dem, was die USA als riesige homogene schiitische Masse ansahen, Aufstände in Stich gelassen, zu denen er die Iraker selbst aufgefordert hatte. Der iranische Ayatollah Khomeini war erst zwei Jahre tot, die Islamische Republik Iran befand sich noch inmitten ihres Revolutionsexports. Ein Abfall des schiitischen Südiraks, befürchtete man, würde das von den USA mühsam gehaltene Gleichgewicht zwischen Iran und Irak - dazu musste Washington den Irak während des Irak-Iran-Kriegs unterstützen - zunichte machen.

Zwölf Jahre später gaben die USA mit dem Irak-Krieg der, um es freundlich auszudrücken, kreativen Instabilität den Vorzug. Einer der wenigen "Erfolge" der US-Strategie ist dabei tatsächlich die Aufwertung der irakischen Schiiten - was dem Iran weh tun sollte, auch im Hinblick auf seinen Einfluss auf die libanesische Hisbollah -, und der arabischen Schiiten insgesamt - was allen sunnitisch dominierten Ländern mit schiitischen Minderheiten, etwa Saudi-Arabien, weh tun sollte.

Nichts gewusst hat man von den gewaltigen Spaltungen innerhalb der irakischen Schia, wo ein radikaler Untergrund nun mit Gewalt gegen die Gemäßigten vorgeht. Den Radikalen, die einen Staat nach iranischem Muster wollen, ist das Konzept der Gemäßigten zu sanft, die sich ganz einfach mit einer Herrschaft der schiitischen Mehrheit im Irak zufrieden geben würden. Diese Form der "Demokratie" ist aber auch nicht gerade beruhigend für die Sunniten im Irak: Und die Radikalisierung der sunnitischen Islamisten bildet den fruchtbarsten Boden für den Terrorismus, mit dem der Irak heute konfrontiert ist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.8.2003)