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Vladimir Putin (li) and Italiens Premier Berlusconi (re) bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Ende August.

Foto: APA/EPA/Anatoly Maltsev
Im kommenden Jahr grenzt Russland an die EU. Der Politologe Andrej Piontkowskij erläuterte Eduard Steiner in Moskau die Perspektiven und die Probleme der russischen EU-Annäherung.

Der STANDARD: Langfristig gesehen - halten Sie einen Beitritt Russlands zur EU für denkbar?

Piontkowskij: Derzeit ist er nicht realistisch, aber die Perspektive muss unbedingt wie eine Horizontlinie aufgestellt werden, weil sie gewissermaßen einen Plan für die russischen Strukturreformen schafft. Das Problem eines Beitritts ist nämlich zu 80 Prozent ein innerrussisches. Für Russland wäre es zweckmäßig, einige allgemeinere Hauptpunkte zu bestimmen, wie Gesetzgebung und Praxis an die europäischen Parameter angenähert werden sollen, z. B. ein vergleichbarer Rechtsstaat, gleiche Werte, Menschenrechte und Massenmedien oder ein gleiches Wirtschaftsmodell. Bei Letzterem wird der wichtige Beitritt zur WTO viele Probleme lösen.

STANDARD: Hat der Horizont schon Wirkung gezeigt?

Piontkowskij: Es ist sehr beunruhigend, dass sich unter Putin viele der genannten Hauptpunkte von den europäischen Werten wegbewegen. Die beliebtesten Worte in der Putin-Administration sind die von der "gelenkten Demokratie", der "administrativen Vertikale", der "Diktatur des Rechts". Ganz zu schweigen vom Krieg in Tschetschenien, wo die EU ihre lange Zeit im Unterschied zur USA kritischere Position beim Petersburger Gipfel im Mai aufgegeben hat.

STANDARD: Putin hatte anklingen lassen, dass Europa für einen geopolitischen Bedeutungsgewinn gute Beziehungen zu Russland suchen solle. Was wollte er damit sagen?

Piontkowskij: Das ist so eine populäre dumme Idee, die während der Irakkrise gescheitert ist. Das von Außenminister Igor Iwanow erfundene Dreieck Frankreich- Deutschland-Russland ist der gleiche Schwachsinn wie das strategische Dreieck Indien-China-Russland seines Vorgängers Jewgenij Primakow. Es ist völlig sinnlos, denn sowohl für Russland als auch für die EU ist Amerika der primäre Partner. Russland verschlechterte durch die Irakfrage die Beziehungen mit Amerika, ohne die Beziehungen zu Europa verbessert zu haben. Der Eintritt nach Europa kann nicht auf dem Weg der Konfrontation mit Amerika gesucht werden.

STANDARD: Wie löst man dann das Problem des doppelten Westens?

Piontkowskij: Unser Verhältnis zu Amerika und zu Europa muss komplementär sein: Unser ökonomischer Hauptpartner ist Europa, auf dem Gebiet der Sicherheit aber ist es konkurrenzlos die einzige Weltmacht USA. Alle Sicherheitsprobleme im 21. Jahrhundert sind leider entlang der Grenze Russlands bzw. zum Fernen Osten, China, Zentralasien, Naher Osten. Europa ist mehr oder weniger ein Wohlstandskontinent, das ist eine riesige Errungenschaft - mit dem paradoxen Effekt zum Ärgernis mancher Politiker, dass seine Rolle auf der globalen Arena gewissermaßen verringert worden ist. STANDARD: Im Umgang aber ist eine Gleichwertigkeit nicht zu erkennen. Russland stellt das Verhältnis zu Amerika weit mehr in den Vordergrund als das zur EU.

Piontkowskij: Der Eindruck stimmt, dass Putin sich gegenüber Europa selbstbewusster und fordernder gibt. Verstehen Sie, die Frage der Sicherheit ist sehr wichtig. Ihren eigenen Krieg in Afghanistan haben die Amerikaner nicht gewonnen - Al-Kaida und Bin Laden sind nicht vernichtet -, aber sie haben dort den russischen Krieg gewonnen. Immerhin gibt es jetzt keine Bedrohungen mehr seitens der radikalen Islamisten im usbekischen Fergana-Tal. Erstmals in der Geschichte Russlands hat jemand für Russland die Drecksarbeit erledigt, und zwar die USA. Und wenn in zehn Jahren im Fernen Osten ein Konflikt mit China aufkommt, wird Russland auch auf Amerika zählen. Mit Europa aber sollen wir die ökonomischen Beziehungen entwickeln. (DER STANDARD, Printausgabe, 1.9.2003)