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Das undatierte Archivbild zeigt den deutschen Philosophen Theodor W. Adorno, der am 11. September vor 100 Jahren geboren wurde.

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Frankfurt/Main - Die Tagungen, Festreden und Kongresse zu seinem 100. Geburtstag am 11. September hätte Theodor W. Adorno wohl mit der Altersweisheit des Philosophen über sich ergehen lassen. Die gesellschaftliche, politische und kulturelle Realität der deutschen Gegenwart aber hätte ihn sicherlich zu bissigen Bemerkungen veranlasst, die heute unerhört wären: Denn der von Adorno zeitlebens praktizierte und geforderte "Einspruch gegen die Realität" findet in dieser Radikalität zumindest öffentlich nicht mehr statt.

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen", schrieb Adorno in seinen 1951 veröffentlichten "Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben". Damals war er gerade zwei Jahre aus dem Exil in den USA zurückgekehrt. Als Professor für Philosophie und Soziologie der Universität Frankfurt wirkte er an der Neugründung des Instituts für Sozialforschung mit, das in den 60er Jahren als "Frankfurter Schule" der Studentenbewegung ihre geistige Grundlage gab. Diese fühlte sich angezogen von Adornos Überzeugung, dass dem Einzelnen der Weg zu persönlicher Entwicklung versperrt ist, wenn sich die Gesellschaft insgesamt nicht von den Zwängen autoritärer Traditionen befreien kann.

"Dialektik der Aufklärung"

Aber Adorno ging es um tiefere Einsichten als die auf den Barrikaden propagierten. In der heftigen Diskussion mit den Studenten sah er einmal mehr die "Dialektik der Aufklärung" am Werk, wie der Titel der 1947 mit Max Horkheimer veröffentlichten Studie lautet. Ihr ging es um die Frage, "warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt".

Auf den Spuren von Kant, Hegel und Marx war Adorno wohl einer der letzten Denker der klassischen Philosophie, die fern von Liberalismus und Pluralismus der Erkenntnis allgemein gültiger Einsichten nachspürten - immer bestrebt, das Wahre, Schöne und Erhabene für alle fassbar zu machen. Seine Befunde wirken nicht erst heute oft merkwürdig streng, wollen aber ebenso dialektisch gelesen werden, wie sie gemeint waren. Dies gilt auch für den viel zitierten Satz, wonach es barbarisch sei, "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben" - solange noch Bedingungen lebendig sind, die Auschwitz möglich gemacht haben, wäre im Sinne Adornos zu ergänzen.

Studium in Wien bei Alban Berg

Die bleibende Besonderheit Adornos liegt in der Verbindung von Philosophie, Gesellschaftswissenschaft und Kunsttheorie. Insbesondere die Musik war dem am 11. September 1903 geborenen Frankfurter von Kindheit an vertraut, da seine Mutter Maria Calvelli-Adorno Sängerin war. Schon mit 16 Jahren erhielt er ersten Kompositionsunterricht, ehe im Studium neben der Musikwissenschaft auch Philosophie, Psychologie und Soziologie hinzu traten. In Wien studierte er bei Alban Berg - seinem neben der Mutter wohl größten Idol.

Erst als er offenbar für sich erkannte, dass die eigenen Kompositionen nicht an die des Vorbilds heranreichten, konzentrierte sich Adorno darauf, Kunst und Gesellschaft von der jeweils anderen Perspektive aus zu durchdringen. Zur Habilitation kehrte er nach Frankfurt zurück und erreichte dieses Ziel im zweiten Versuch 1933 mit einer Arbeit über Kierkegaard. Im gleichen Jahr entzogen die NS-Behörden dem Sohn des jüdischen Weinhändlers Oskar Wiesengrund die Lehrerlaubnis. Adorno emigrierte 1934 zuerst nach Oxford, wo er 1937 nach zehnjähriger Freundschaft die Chemikerin Margarete Karplus heiratete. Nach 1938 lebte er in New York, schließlich in Los Angeles, wo er Thomas Mann bei den musikästhetischen Stellen im "Doktor Faustus" half und den väterlichen Namen in "W." verkürzte.

Tendenz der Selbstaushöhlung

Noch in den USA erschienen 1950 die "Studien zum autoritären Charakter", in der er der demokratischen Gesellschaft eine Tendenz der Selbstaushöhlung zuschrieb. Zusammen mit seinem lebenslangen Freund Horkheimer kehrte Adorno nach Deutschland zurück, wo wieder die Musiktheorie in den Vordergrund trat: "Versuch über Wagner" (1952), "Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt" (1956), "Klangfiguren" (1959) und "Mahler. Eine musikalische Physiognomik" (1960). Aber "jedes Kunstwerk bedarf des Gedankens und damit der Philosophie", schrieb Adorno in seinen Aufzeichnungen zur unvollendet gebliebenen "Ästhetischen Theorie".

"Adorno als Institution ist tot", hieß es im April 1969 auf einem Flugblatt Frankfurter Soziologiestudenten, dreieinhalb Monate vor dem realen Tod des Gelehrten am 6. August während einer Urlaubsreise im Wallis. Sie wähnten sich in ihrer vermeintlich revolutionären Realität weit über Adorno hinaus. Heute wird Adorno außerhalb eines engen wissenschaftlichen Zirkels ebenfalls für überholt gehalten - weil die Realität der Gesellschaft seinen ihr so anderen Ideen keinen Platz mehr einräumen will. (APA/AP)