Nun endlich hat also auch Österreich seine Wertedebatte. Eigentlich geht es um die künftige Finanzierung unserer Sozialsysteme, um Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten der demografischen Entwicklung. Aber erst der Wertbegriff verleiht der politischen Diskussion die höheren Weihen. Er steht für geistigen Tiefgang, zumal wenn er von der für Bildung zuständigen Ministerin in die Debatte geworfen wird.

Die Art und Weise, wie nun hierzulande in leicht erhöhtem Ton über Werte schwadroniert wird, ist freilich nicht weniger oberflächlich wie die unsägliche Alternative "Pampers statt Partys".

Aus gegebenem Anlass sei an die Warnung des Rechtswissenschafters Carl Schmitt vor der "Tyrannei der Werte" erinnert: Seiner Tendenz nach ist jedes Wertdenken eminent aggressiv. Nicht das Sein der postulierten Werte, wohl aber deren Verwirklichung führt leicht zum Rigorismus, ja Fanatismus im Blick auf einen bestimmten Wert.

Alle Werte, so Schmitt, sind interessengeleitet. Sie basieren auf den Wertungen der an ihnen interessierten Subjekte. Das bedeutet aber auch: "Niemand kann werten, ohne abzuwerten, aufzuwerten und zu verwerten."

Wer für moralische Werte und gegen den Geist des Materialismus streiten möchte, sei daran erinnert, dass der Wertbegriff von Haus aus gar kein ethischer, sondern ein ökonomischer Begriff ist:

Der Wert einer Sache bestimmt ihren Preis, der am Markt zu erzielen ist. Auch das in ethischen Debatten verwendete Wort "Grundwert" stammt aus der Wirtschaftssprache und bezeichnet von Haus aus den "Bodenwert". Wir sprechen vom Gebrauchswert, Tauschwert oder Realwert von Gütern.

Es ist bezeichnend, wenn Geburtenraten und individuelle Familienplanung unter dem Begriff des Wertes abgehandelt werden. Kinder sind keine Werte, sondern Menschen, und Menschen haben, wie uns Immanuel Kant belehrt, keinen Wert, sondern Würde. Nicht Werten, sondern Menschen hat die Politik zu dienen.

Die materiale Wertethik hat den Wertbegriff allerdings von seiner ökonomischen Logik zu befreien versucht. Im Anschluss an Platons Ideenlehre nahmen deren Vertreter eine überzeitliche Wertordnung an, die an intuitiven Werterfahrungen ausgerichtet ist und in einem "Wertapriori" gründet.

Tatsächlich handelt es sich bei der materialen Wertethik aber um eine Reaktion auf die massive Infragestellung abendländischer Ethiktraditionen durch die gesellschaftlichen Umbrüche im Zeitalter der Industrialisierung, die besonders klarsichtig in Friedrich Nietzsches philosophischem Nihilismus und seiner Idee von der "Umwertung aller Werte" reflektiert worden sind.

Werte, auch solche der Moral, sind eine Sache der persönlichen Wahl oder auch der gesellschaftlichen Konvention. Sie werden tradiert, aber nicht durch apriorische Wesensschau erkannt. Die Idee einer vermeintlich objektiven Hierarchie von Werten kann nicht über den faktischen vorhandenen beständigen Wertekonflikt in der modernen pluralistischen Gesellschaft hinwegtäuschen. So entpuppt sich selbst noch die Idee eines metaphysischen Wertekosmos als eine bloße Setzung.

Daran sollten auch jene kirchlichen Kreise denken, die unsere Bildungsministerin in ihrem Wertefeldzug unterstützen. "Wertethik und christliches Ethos", so lautet die provokante These des bedeutenden evangelischen Theologen Eberhard Jüngel, "sind einander feind."

Die biblische Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist, unterbricht die Logik des Wertens und Umwertens auf heilsame Weise. Solch eine Unterbrechung könnte auch der aktuellen politischen Diskussion nicht schaden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.9.2003)