Kürzlich war der türkische Außenminister Gül hier, um bei der österreichischen Regierung für den Beitritt der Türkei zur EU um Unterstützung zu werben. Ministerpräsident Erdogan besuchte Deutschland. Kanzler Schröder gab Erdogan eine klare Unterstützungserklärung. In Wien wurde Gül freundlich hinhaltend behandelt, am Rande sickerte durch, Kanzler Schüssel sei "sehr skeptisch", was den Beitritt der Türkei betrifft. Dazu besteht guter Grund. Allerdings hat sich die EU spätestens seit dem Gipfel von Helsinki 1999 (auch mit österreichischer Stimme, Kanzler war Klima, Außenminister Schüssel) in eine Situation manövriert, in der ein späterer Beitritt der Türkei als unausweichlicher Schluss erscheint. Erdogan: "Der Weg der Türkei in die EU ist unwiderruflich".

Die Aussage der EU, die Türken könnten grundsätzlich beitreten, ist über 30 Jahre alt. In den letzten Jahren, als Ankara immer mehr drängte, sagte die EU, ab 2005 könnten Verhandlungen über den Beitritt beginnen, aber die Türkei müsste selbstverständlich eine Menge Kriterien erfüllen: wirtschaftliche und politische. Nun hat sich aber ausgerechnet die islamische Partei unter Erdogan energisch daran gemacht, diese Bedingungen zu erfüllen, und zwar nicht nur formal: die langsame Zurückdrängung der Macht der Militärs etwa ist ein realer Vorgang. Ob das im Interesse einer echten Demokratie oder im Interesse der Macht der islamistischen Partei geschieht, ist aber noch unklar.

Doch die Problematik liegt tiefer. Die Türkei ist kein europäisches Land, nicht nur wegen der Demokratie. Die notwendige Grundübereinstimmung, die in einer politischen Union herrschen muss, ist nicht vorhanden. Und das hat zunächst noch nichts mit dem Islam zu tun. In weiten Bevölkerungskreisen herrscht ein autoritäres, patriarchalisches Verständnis von Politik, von Menschenrechten und Rechtsstaat, vom Verhältnis von Mann und Frau, von der Familie usw. Zwangsheiraten und Morde an Frauen, die sich dem entziehen wollen, sind nach wie vor fixer Bestandteil der türkischen Gesellschaft. Wenn Erdogan in Deutschland sagte, die Türkei habe sich den "westlichen Werten verschrieben", so gilt das bestenfalls für eine dünne Schicht der Eliten. Der Islam ist davon teilweise nicht zu trennen. Ein guter Teil der Gläubigen lehnt das Modell der westlichen, säkularen Demokratie, der Trennung von Kirche und Staat, vehement ab. Der Islam ist nicht nur eine Religion, sondern (wie andere Religionen auch) eine Ideologie, zum Teil mit totalitärem Anspruch. Das, wenigstens das, hat Europa hinter sich.

Die Türkei ist wirtschaftlich von den Krediten des IWF und der EU abhängig, betrachtet sich aber als militärische Groß- und Interventionsmacht , ausgerechnet in einer der ärgsten Konfliktzonen der Erde.

Nun gibt es zwei Denkschulen: die eine sagt, der Beitritt ist abzulehnen, weil die EU daran zerbrechen würde. Oder, ganz im Gegenteil, man muss die Türkei hereinnehmen, um aus ihr einn modernen Staat zu machen und so zu zeigen, dass Islam und Demokratie vereinbar sind.

Beides ist mit extremen Risken verbunden, in beiden Fällen ist eine Vorhersage unmöglich. Es gibt einen dritten Weg: die Türkei erhält einen besonders engen Assozierungsvertrag mit einem Maximum an wirtschaftlichen Rechten (inklusive weitgehende Personenfreizügigkeit) , aber sie wird nicht Vollmitglied mit politischem Mitspracherecht. Davon redet allerdings niemand offen, vor allem nicht zur türkischen Regierung. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.9.2003)