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Raoul Schrott:
Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde
€ 26,70/715 Seiten. Hanser, München 2003.

Foto: Archiv
Man muss, bevor man liest, vor der Karte auf der ersten Titelseite verharren: eine Insel rund wie ein Rad. Die Nabe ein Vulkan. Von ihm herab sich ausbreitend die Speichen: Schluchten und Rinnen, "Gulches" genannt. Auf dem Reif schließlich die Kaps, die Buchten, Strände vielleicht. Im Nordwesten eine Siedlung und so etwas wie ein Hafen. Als Kind, sagt Raoul Schrott, habe er die Insel erstmals entdeckt, am unteren Ende der Weltkarte, die im Büro seines Vaters hing, "auf Augenhöhe eines Knirpses": Tristan da Cunha, verloren im Blau des Atlantischen Ozeans zwischen Kap Frio und dem Kap der Guten Hoffnung. Lange bevor er seinen Roman zu schreiben anfing, muss es dann in ihm zu schreiben angefangen haben.

Und lange vor ihm hatte die Insel sich selber in Sprache verwandelt: "Washout", "Where-Times-Fall-Off", "Hottentot", "Deadman's", "Down-Where-The-Minister-Land-His-Things" heißen die Gulches, Kaps und Buchten. In der Magie der Namen verbirgt sich der Wunsch der Menschen zu benennen. Schriftsteller und Seefahrer zeichnen ihre Spuren beide in leere Flächen. Raoul Schrotts Poetik ist nichts anderes: benennen dessen, was man nicht fassen kann. Sein Wortschatz ist darin unerschöpflich, als würde er sich bei jeder Verausgabung nicht leeren, sondern wie durch ein Wunder füllen. An die Stelle der Landnahme der Entdecker tritt beim Dichter die Imagination. Raoul Schrotts Roman bringt - auf Umwegen - Tristan da Cunha auf die Augenhöhe eines Kindes zurück. Er lässt nicht eine Insel, sondern das Träumen Wirklichkeit werden.

Roaring Fourties, Furious Fifties, Shrieking Sixties, Rossbreiten, Kalmen, Mallungen, Packeis und Aurora, skorbutzerfressene Mannschaften, hasardierende Kapitäne am Ende irgendeiner Geschichte - das ist der Stoff, aus dem Raoul Schrotts Roman gemacht ist. Auch gemacht ist. Er erinnert uns an ein frühes Lesen, als wir instinktiv schon wussten, dass Abenteuer Leseabenteuer sind. Sätze machten wahr, was wir wahrhaben wollten.

Sätze wie dieser von Raoul Schrott: "Er hatte Angst, aber das hatten wir alle." Später dann versuchten wir, solche Wachträume hinüberzuretten in unsere Utopien. So wie sich Samuel Glass und John Nankivel 1817 auf Tristan da Cunha zusammensetzen und aufschreiben: "1stens. Dass der oben im Besitz der Gesellschaft angeführte Bestand und Vorrat als allen gemeinsam gehörig zu betrachten ist."

Die einsamste aller bewohnten Inseln

Raoul Schrott erzählt die Geschichte Tristan da Cunhas, der einsamsten aller bewohnten Inseln der Erde, seit ihrer Entdeckung im Jahre 1506. Sein Roman ist eine Enzyklopädie der Weltzugänge und Weltbilder, die das Abendland seit der ersten "Globalisierung" durch die spanischen und portugiesischen Seefahrer geprägt haben. Unheimlich, was da alles drin ist: Kartografie, Nautik, Funk, Postwesen, Meteorologie, Botanik, Vulkanologie, Astro- und Geophysik, Glaziologie, Historiografie, Philatelie, Gromatologie, Kirchengeschichte, Liturgie usw. Und dieses Wissen ist nicht aufgesetzt. Als "figurae" macht es Raoul Schrott vorstellbar, erzählbar. Nicht sein Wissen überträgt sich dann auf den Leser, sondern seine Leidenschaft. Dass er Tristan da Cunha besucht hat, nehmen wir zur Kenntnis, aber wichtig ist es nicht. Die Überzeugungskraft verdankt sein Roman nicht der Autorität des Erlebten, sondern seiner Kunst, die Imagination selber zum Erlebnis zu machen.

Was Raoul Schrott auf über siebenhundert Seiten sprachlich gelingt, ist die geniale Verschwisterung von Wissenschaft und Poesie. Ob er ein im Sturm auf einem Schiff eingepferchtes Pferd oder die inneren Qualen eines Priesters in viktorianischer Zeit evoziert; ob er einen tristen Beischlaf oder die Tötung einer Elefantenrobbe protokolliert: Immer sind seine Sätze ebenso kartografisch reduktiv wie durchdrungen von intensivster Bildhaftigkeit. Tristan da Cunha ist nicht der Ort, wo Schrotts Sprache aufhört. Es ist der Ort, wo sie neu beginnt. Die Polarforscherin Noomi Morholt lernt das Sehen durch Beschreiben. Ein Sturm, ein Albatros, Aurora, die Erfrierung auf der Handoberfläche: "Das ist das, was ich sehe; was ich bin."

Die Insel als Metapher der Vergeblichkeit

Alle Figuren Schrotts sind Forscher. Mit gleicher Intensität und Distanz betrachten sie die Welt und sich selber in ihr. Ist es das, was sie noch einsamer macht? Aus dieser unausgesprochenen Frage des Autors spricht, auf Augenhöhe des nunmehr erwachsenen Kindes, seine Trauer. Die Insel, die in Abständen den Mächtigen und Schiffbrüchigen der Welt Rettung und Untergang bedeutet hat, wird in Schrotts Roman zur greifbaren Metapher der Vergeblichkeit. Ein Symbol der "vanitas vanitatum" wie die Totenschädel auf den Stillleben alter Meister. Täglich erhebt sich Tristan da Cunha und geht unter in den Stürmen unserer Glückssuche.

Schrotts Roman ist keine "große Erzählung". Er gleicht der uferlosen Fläche des Meeres. Das ist kein Raum für Helden, die im Kampf Ende und Erfüllung finden. Kommodore da Cunha hätte einer werden können. Aber die Insel selber hat es verhindert. Weil er 1506 nicht landen konnte, gab er ihr nur seinen Namen. Entdeckt hatte er nicht die Insel, sondern die Enttäuschung. Während der große d'Albuquerque, mit dem er aufgebrochen war, sich zum König von Indien ernannte. Aber schon bei Scott, der am Südpol zu spät kam, war es, wie wir uns erinnern, diese Melancholie, die uns bannte. Die Leere, in die Männer wie er hinausgingen, um ihrer inneren zu begegnen. So dass in ihrer Landschaftswahrnehmung wie bei Schrott ihre Seelen sichtbar werden.

Erinnerung an die Toteninsel von Cornwall

Für alle, die nach Tristan kommen, ist die Enttäuschung die erste Erfahrung. Über vierhundert Jahre nach da Cunha zeigt sich auch Christian Reval nicht einmal der überwältigend vom Meer in den Himmel aufsteigende Vulkan, als er im Zweiten Weltkrieg als Funker für die Allierten erstmals auf die Insel kommt (zurückkommt, denn hier lebten einst seine Vorfahren): "Ich war maßlos enttäuscht, als wir vor der Insel lagen und nicht an Land gehen konnten." Tristan erinnert ihn an die Toteninsel vor Cornwall. Revals Geschichte beginnt in Schrotts Roman mit dieser Erinnerung an das Ende. Ein Ende, das seinem Leben eingeschrieben ist seit den ersten Zurückweisungen, die er in seiner Jugend erfuhr; den ersten melancholischen Lähmungen, die ihn tagelang aufs Bett warfen. Ein genialer Einfall von Schrott, Revals Geschichte von seinem Tod her zu erzählen, der sein Scheitern endgültig machte. Auch der "Tristan" Reval wollte der Insel einen Namen geben: "Marah", nach seiner "Isolde", die er ein Leben lang verpasst hat. Begleitet hat ihn im Tod auf der Nachbarinsel Gough eine andere: Maria - zum Leben die Falsche.

Raoul Schrotts Roman ist ein Werk der losen Blätter. Es fügt sich zusammen aus den Bruchstücken von vier Biografien, in deren Fluchtpunkt die Insel Tristan da Cunha und die Geschichte stehen, nach der jener benannt ist, der der Insel den Namen gegeben hat: die triste Liebesgeschichte von Tristan und Isolde. Den Rahmen bildet das Journal der Physikerin Noomi Morholt, die an einem Projekt zur Erforschung des Polarlichtes teilnimmt. Darin dann die Aufzeichnungen des Funkers und Kartografen Christian Reval, die historischen Dokumente zu Tristan des im Süden Irlands lebenden Philatelisten Mark Thomsen und die Briefe, die Reverend Edwin Heron Dodgson in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts an seinen berühmten Bruder Lewis Carroll geschrieben hat. Zwischen diese Teile fahren immer wieder kurze, herrenlose Texte wie der Sturm, den sie beschreiben. Die einzigen, in denen der Konstrukteur des Romans sich auch als Autor zu Wort meldet.

Das Gewissen des Romans

Man könnte versucht sein, eine der Nebenfiguren als Signatur des Autors Schrott zu nutzen: den Schriftsteller Rui, Freund Noomi Morholts, der ein Buch über Tristan da Cunha schreiben will, in dem die Insel zum Mythos des Weiblichen an sich erklärt wird. Aber mit Noomi ist er an die Falsche gekommen. Keines seiner Konzepte hält vor ihrem Blick stand. Nicht Rui, sondern Noomi macht Schrott zum Gewissen des Romans. Sie ist es auch, die auf ihrer Forschungsstation in der Antarktis überhaupt erst diesen Packen mit den Manuskripten von Reval, Dodgson und Thomsen entdeckt, die man vergessen hat, auf der Vorbeifahrt in der Bibliothek von Tristan da Cunha abzuliefern. Mit Noomis Skepsis erzählt Schrott: gegen die Sehnsucht der Gralssucher Rui, Reval, Thomsen, Dodgson und wie sie alle heißen mögen, die ihre eigene Geschichte in das Tristan des da Cunha und den Tristan der Isolde hineinlesen.

Noomi Morholt beginnt den Roman und sie beendet ihn auch: mit ihrem "Ja, du tust mir weh", das sie zu Rui sagt, der sie sodomisiert. Mit der Totgeburt des Kindes von Martin auf ihrem Arm. Mit ihrem Satz: "Ich weiß nicht mehr, was Liebe ist." Leben bedeutet Zerfall, das weiß sie aus ihren Forschungen über die Atmosphäre. Ein trauriger, aber vielleicht der archimedische Punkt. Er liegt nicht jenseits: Er ist der gottverlassene Punkt mitten in der Welt - Tristan, dieses "unfruchtbare, saure und nasse Land". Das ist die unsägliche und unzugängliche Wahrheit in Schrotts Roman. Sie ist das "adyton" des Tempels, in dem keine "Marah" und kein Gott mehr sitzen, sondern eine Frau wie Noomi, eine Frau für sich, nicht an sich. Bei aller Sprachmächtigkeit, die Schrott auszeichnet: Zuinnerst ist eine Scheu und ein Erschrecken zu spüren. Am Ergreifendsten in der Figur von Reverend Dodgson. Unheimlich, in welche Tiefen hinab Schrott hier geht und aus welchen Tiefen heraus - de profundis! - er dessen Lebensangst und Zweifel in den Stürmen und Anfechtungen des viktorianischen Zeitalters zum Ausdruck bringt. Gewaltiger als der Vulkan erhebt der Gottesmann sich so aus den Ruinen seines nie fertig werdenden Kirchenbaus zum Menschenkind, das zuletzt Gott leugnet aus Liebe zu Gott.

Die Hälfte der Welt

Die Fleischlichkeit des Lebens lässt Dodgson an der Vernunft verzweifeln: die Ratten, der Tod Joshuas und das Kind, das er mit einer Wahnsinnigen gezeugt haben soll. "Dass das Leben auf Tristan nicht mehr länger möglich ist", meldet er 1886 an die Admiralität in London. Zu nahe sind sich für ihn das Inferno und das Paradies gekommen.

"Die Hälfte der Welt" lautet der zweite Titel des Romans. Aus ihm spricht die Sehnsucht nach Ergänzung. Aber das Ganze spiegelt sich bei Schrott nur im Zerbrochenen. "Wir suchen immer das Unbedingte und finden immer nur Dinge", steht auf Mark Thomsens sechzehntem Bogen. Seine philatelistische Tristan-Leidenschaft (für die Insel ist die Briefmarkenausgabe bis zum heutigen Tag von wirtschaftlicher Bedeutung) hat er mit dem Verlust seiner "Marah" an einen Geschäftspartner bezahlt. Jetzt versucht auch er, seine Geschichte über die Geschichte Tristan da Cunhas zu begreifen: das zerbrochene Eiland, die zerbrochene Beziehung. Er trägt die Dokumente der sieben Familien auf der Insel zusammen. Sieben: so viele, wie es Todsünden gibt. Thomsen ist die Figur, die Schrott am nächsten steht. Er liefert das Konstruktions- oder vielmehr Destruktionsprinzip des Romans: vier Stimmen, die vier Ecken der Briefmarken, vier Peilungen. Er liefert damit die wichtigste Erfahrung: durch die Vermehrung der Peilungen wird ein Standort zwar sicherer, aber auch unschärfer. Das Ganze zerfällt zum Archipel: Tristan, Gough, Inaccessible, Nightingale.

Der Schriftsteller Raoul Schrott ist wie der Philatelist Thomsen ein Scherbensammler. Von allen Stürmen, die über die Insel und seinen Roman fegen, ist der, den er in einem kurzen Nachzitat von Angelus Novus erwähnt, der gewaltigste: der Sturm, der dem "Engel der Geschichte" vom Paradies her weht. Der Sturm, der ihn unaufhaltsam in die Zukunft treibt, "der er den Rücken kehrt, während vor ihm der Trümmerhaufen zum Himmel wächst". Eine "Scherbe" wird den Paradiessturm überdauern: der Roman Tristan da Cunha . Mit ihm hat sich Raoul Schrott in die lange "Tristan"-Bibliothek hineingeschrieben. Eine künftige Noomi wird ihn in ihrer Kiste finden und sich in den ewigen Eisgründen mit erwachsenen Augen Nacht für Nacht über seine "aufgeschlagenen Blätter" beugen. Wie ein Kind. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.9.2003)