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"Um nach vorne zu kommen, muss man auch die Vergangenheit klären": Armeeoberkommandierender Joan Emilio Cheyre (rechts) mit Präsident Ricardo Lagos und Verteidigungsministerin Michelle Bachelet.

Foto: APA/Presidencia
Zäh sieht er aus und entschlossen: Der Oberkommandierende der chilenischen Armee, Juan Emilio Cheyre. Mit sichtlichem Stolz lässt er auf einem Übungsplatz im Norden des Landes in der Nähe von Iquique Panzer auffahren: Es sind deutsche Leopard-Panzer, die sich durch die chilenische Wüste pflügen. Cheyre hat sich der Modernisierung der Armee verschrieben - in jeder Hinsicht. Um nach vorne zu kommen, müssen man auch die Vergangenheit klären, erklärt er. Als erster ranghoher chilenischer Militär brach er Anfang des Jahres den unausgesprochenen Treueschwur zu Exdiktator Augusto Pinochet und gestand ein, dass während der Militärherrschaft Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Auch die Militärs müssten zu ihren Taten stehen. Er betont: "Nie wieder Verbrechen, Gewalt und Terrorismus."

Wunden aufreißen

Der Mittfünfziger reißt damit auch Wunden in der Familie auf: Sein Vater war ein ranghoher Militär, seine Frau gehört ebenfalls der Armee an und sein Schwiegervater wurde sogar wegen Taten während der Militärdiktatur verurteilt. Cheyre weiß, dass er mit seinem Vorstoß am Selbstverständnis der Militärs kratzt und ihnen gleichzeitig auch viel zumutet. Deshalb versucht der Heereschef auch immer wieder zu beruhigen, indem er bei jeder Gelegenheit die Einheit der Armee und den Zusammenhalt betont.

Auch Exdiktator Augusto Pinochet appelliert an seine früheren Mitstreiter, "zusammenzustehen in schwierigen Zeiten". In einer Rede Anfang August vor 80 pensionierten Generälen, mit denen er sich zum Mittagessen traf, verlangte er "Zusammenhalt, um die Probleme, vor denen wir stehen, zu überwinden". Dies wurde als Unterstützungserklärung für jene Militärs verstanden, die sich Prozessen stellen müssen. Rund 160 Angehörige der Armee müssen sich derzeit vor Gerichten verantworten.

"Mörder, Mörder"

Der 87-jährige tritt auch weiterhin bei bester Laune in der Öffentlichkeit auf und scherzte vor kurzem sogar über eine Wiedergewinnung der Regierung. Als ihn eine Frau während seines Sommerurlaubs in seiner Heimatstadt Iquique beim Schaufensterbummel entdeckte, griff sie ihn mit den Worten "Mörder, Mörder" an. Nur mit Mühe konnten die Bodyguards die Frau davon abhalten, sich auf Pinochet zu stürzen.

Der Oberste Gerichtshof Chiles hatte im vergangenen Jahr entschieden, dass der 87-jährige Exdiktator gesundheitlich zu angeschlagen sei, um einen Prozess durchstehen zu können. Dabei bleibt es auch. Ende August lehnte zuletzt ein Berufungsgericht in Santiago einen Antrag ab, ihn wegen des Verschwindens von zwölf führenden Kommunisten während seiner Regierungszeit juristisch zur Rechenschaft zu ziehen.

Kein relevanter politischer Akteur mehr

"Pinochet ist kein relevanter politischer Akteur mehr. In seiner eigenen Armee, beim Heer, in seiner eigenen Institution ist er eine sehr beliebte und respektierte Person, da er mehrere Jahrzehnte der oberste Befehlsgeber war. Aber er spielt keine Rolle mehr in unserem Land", versucht Verteidigungsministerin Michelle Bachelet zu beschwichtigen.

Die sozialistische Politikerin nutzt das gleiche Büro wie Pinochet. Ob sie damit Probleme habe? "Ich habe am Anfang gar nicht daran gedacht. Dass ich hier sitze, bringt anderen viel mehr Probleme", meint sie lächelnd. Ob ihr Vater stolz auf sie wäre? Bachelet zuckt die Achseln. Ihr Vater Alberto Bachelet, General der Luftwaffe, starb 1974 im Gefängnis an den Folgen von Folterungen durch seine Kollegen. Für Präsident Salvador Allende hatte er bis zum Militärputsch vom 11. September 1973 den Kampf gegen Lebensmittelspekulanten organisiert, das verziehen ihm seine Kameraden nicht. Seine Frau und seine Tochter verbrachten dann mehrere Jahre im Exil in der DDR.

Mea Culpa

Angestoßen durch die Ministerin und den von ihr im Vorjahr ernannten Oberkommandierenden der Armee haben vor kurzem gleich acht Generäle, alle enge Mitarbeiter Pinochets, in Santiago ihr "Mea Culpa" verlesen. "Wir geben zu - soweit es uns betrifft - die Existenz von Irrtümern und Problemen im Bereich der Menschenrechte, die sich nicht wiederholen dürfen", trugen die Generäle vor. Es war das erste Mal, dass enge Mitarbeiter von Pinochet von "Irrtümern" sprachen und Menschenrechtsverletzungen während des Militärregimes eingestanden. Bisher hatten die Militärs in Chile sich gescheut, das Wort "Menschenrechte" überhaupt in den Mund zu nehmen.

Sie gestanden ein, dass Hingerichtete wieder ausgegraben wurden und die Toten im Meer versenkt wurden, um Spuren zu beseitigen. "Wir beklagen die Schmerzen, die diese Ereignisse verursacht haben. Diese Handlungen sind einem Militäroffizier nicht angemessen."

Betrunken, um das auszuhalten

Wie dies vor sich ging, beschrieb der pensionierte Sergeant Eliseo Cornejo detailliert in einem Interview mit El Mercurio Ende Juni: Nach dem Putsch hätten Soldaten Leichen aus dem Präsidentenpalast zunächst in einem Brunnen außerhalb der Stadt verschwinden lassen. Fünf Jahre später sei er zur selben Stelle beordert worden, um die rund 30 Leichen wieder herauszuziehen. Um den Gestank zu ertragen, hätten sich alle Beteiligten zuerst betrunken. Die Leichen seien mit zwei Helikoptern abtransportiert und ins Meer geworfen worden.

Wie stark dieser Bewussteinsprozess bei den Militärs im Gange ist, zeigt sich in der Erklärung der acht Pinochet-Mitstreiter: Die Exgeneräle, darunter ein Verteidigungsminister und ein Innenminister Pinochets, fordern auch Bestrafungen für diese Taten - ein absolutes Novum. Und sogar Lucía Hiriart de Pinochet, eiserne Ehefrau des Exdiktators, tat vor zwei Wochen ihre Ansicht kund, sie hoffe, dass es in Chile nie wieder eine Militärdiktatur geben werde. Für Cheyre "ein Beitrag zur Demokratie", den er nicht weiter bewerten wolle.

Armeeoberkommandant wünscht sich Schlussstrich

Er hat zwar den Prozess mit seinen "Niemals mehr"-Aussagen angestoßen, gleichzeitig ist ihm anzumerken, dass er nun gerne einen Schlussstrich ziehen würde: "Als Gesellschaft dürfen wir nicht zulassen, dass die Seele der Nation durch den Haß kaputtgemacht wird." Die Einheit des Landes sei "wichtiger denn je", er betrachte die Streitkräfte als allen Chilenen gehörend. "Niemals mehr dürfen sie einer bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Gruppe angehören." Das ist die Lehre, die Cheyre aus der Geschichte der vergangenen 30 Jahre zieht und für die er weiter kämpfen will. (DER STANDARD, Printausgabe, 6. 9. 2003)