
Jhumpa Lahiri,
Der Namensvetter.
Aus dem
Amerikanischen von Barbara Heller.
€ 20,60/
350 Seiten.
Blessing,
München 2003.
Jhumpa Lahiri hat gleich mit ihrem ersten Erzählband ("Melancholie der Ankunft", 2000) den Pulitzerpreis gewonnen. Mit 33 Jahren war sie die bislang jüngste Autorin, der dieses Kunststück gelungen ist. Als Tochter bengalischer Eltern in London geboren, in New York lebend, ergibt sich das große Thema ihrer Bücher wie von selbst. Lahiris Figuren wandern zwischen den Welten. Sie kommen aus Indien, müssen sich in Amerika in eine fremde Kultur einfügen, sehnen sich nach einem wirklichen Zuhause, nur um nach Jahrzehnten feststellen zu müssen, dass sie eigentlich nirgendwo dazugehören.
Wie dieses Suchen und Ankommen sich abspielt, ist auch eine Generationenfrage. Das junge Ehepaar aus dem Jahr 1968, das uns Lahiri vorstellt, ist nach einer von den Eltern arrangierten Heirat in Indien in die USA gekommen, weil der Mann ein Doktorand am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ist. Die Frau wird sich nie ganz heimisch fühlen in Amerika. Das Paar wird sich fast immer innerhalb der bengalischen Gemeinde bewegen, man wird die traditionellen indischen Feste miteinander feiern, den Heiligen Abend integrieren und von den Nachkommen erwarten, dass sie einmal untereinander heiraten werden.
Die beiden Kinder von Ashima und Ashoke, Gogol und Sonia werden ihrerseits verzweifeln, als der Vater ein Sabbatical antritt und die ganze Familie für acht Monate nach Kalkutta zu den Verwandten reist: das furchtbare Essen, die hygienischen Verhältnisse, die vielen unbekannten Tanten und Onkel, wie langweilig!
Der Titel des Buches bezieht sich auf den sonderbaren Spitznamen des Erstgeborenen, um den es bei diesem Roman geht. "Gogol" steht symbolhaft für die Synthese der Kulturen: Ashoke, ein Bewunderer des russischen Schriftstellers, hat in einem Band des Dichters lesend, ein schweres Zugsunglück überlebt. Und als der Brief der indischen Großmutter, der den Vornamen des Sohnes enthalten soll, nicht und nicht in den USA ankommt, bleibt der provisorische Name Gogol dem Neugeborenen erhalten. Der Erwachsene versucht denn auch eine Neudefinition, indem er sich einen neuen Vornamen gibt. Als Pubertierender will Gogol nichts lieber als ein echter Amerikaner sein; später wird er von der gebildeten reichen Familie seiner weißen Freundin freundlich aufgenommen. Rassismus ist in den akademischen Kreisen, in denen sich Gogols Familie dank der Professur Ashokes bewegt, kein Thema. Trotzdem ist es schwer, eine Heimat zu finden.
Die indische Frau, die Gogol schließlich heiratet, hatte vor ihm Männerfreundschaften und verlässt ihn wegen eines anderen. Das wäre in der Welt seiner Eltern vollkommen undenkbar gewesen und wird doch innerhalb einer einzigen Generation zu etwas, das jedem passieren kann. Auch anhand dieser sich wandelnden Wertvorstellungen zeigt Lahiri, wie sehr sie ein Kind ihrer Zeit ist. Sie erzählt scheinbar schlicht, ist jedoch voller Nuancen und Andeutungen. Unsentimental, kosmopolitisch und auf der Suche nach neuen Wurzeln in London, New York oder Kalkutta, das ist ein weites Feld für die Literatur. Und Gogols Schwester Sonia ist gerade dabei, einen Mann zu heiraten, der halb Jude, halb Chinese ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.9.2003)