Cao Siyuans Anruf kam aus einem Hotel im fernen Urumtschi. Der Bürgerrechtler und Verfassungskritiker, der einst Mitglied des Reformteams zur Entwicklung eines Konkursgesetzes im Pekinger Staatsrat war, hielt sich in der Provinz versteckt. "Ich bin vorerst abgetaucht. In Peking hören sie mein Telefon ab und beschatten mich", sagte er. Geplante Vorträge, die der 57-jährige Direktor einer privaten Consultingfirma halten wollte, wurden auf "höhere Weisung" abgesagt, Zeitschriften gewarnt, nichts mehr von ihm zu veröffentlichen.

Der unbequeme Querdenker hatte als Veranstalter einer Konferenz zur Reform der chinesischen Staatsverfassung in der Küstenstadt Qingdao den Zorn der Partei auf sich gezogen. Cao hatte dabei nur auf eine Ankündigung der KP reagiert. Auf ihrem nächsten Parteiplenum im Oktober will sie dem Parlament Änderungen in der Verfassung vorschlagen. Einer der wichtigsten Punkte soll der erstmals formulierte Schutz privaten Eigentums werden. Er wird dem freien Unternehmertum in China mehr Rechtssicherheit garantieren.

40 renommierte Rechtsprofessoren, Theoretiker und Volkswirtschafler folgten Caos Ruf, sich in die Debatte mit einzuschalten und über den "Schutz des privaten Eigentums und die Reform der Staatsverfassung" nachzudenken. Cao sagt heute dazu: "Unsere Vorschläge waren konstruktiv gemeint, unsere Versammlung war akademisch." Die KP aber wertete das Symposium als Angriff auf ihre Einparteienherrschaft.

Geist und Inhalt der Qingdaoer Debatten unterschieden sich kaum von den öffentlichen Vorträgen, die Pekings Führung unlängst ihren Staatsgästen, dem einstigen US-Präsidenten Jimmy Carter und Bundespräsident Johannes Rau, erlaubte. Carter sprach am 9. September an der Eliteuniversität Peking. Er warb vor 150 Studenten der Wirtschaftswissenschaften für demokratische Reformen und Direktwahlen, die bisher nur auf dem Dorf erlaubt sind.

Wenige Tage später erregte der deutsche Bundespräsident Johannes Rau Aufsehen. Er plädierte beherzt vor Pekinger Studenten an der naturwissenschaftlichen Universität Qinghua für die Freiheit der Information. In Nanjing sprach er über die Umsetzung unteilbarer Menschenrechte.

Rau ja, Cao nein

Carter und Rau blieben mit ihren Mahnungen unterhalb der Schwelle einer Verurteilung Pekings. Deren Führung wertet solche Kritik an ihrer Menschenrechtsbilanz nicht mehr als Einmischung oder Affront. Sie sorgt aber dafür, dass bei kritischen Vorträgen der Kreis ausgewählter Teilnehmer beschränkt bleibt. Über die Reden wird von der staatlich gelenkten Presse auch nicht berichtet.

Chinas Regierung hat sogar mit westlichen Demokratien regelmäßig stattfindende Menschenrechtsdialoge zu konkreten Fragen vereinbart. Im November wird das Thema Informationsfreiheit Schwerpunkt einer neuen Runde des Rechtsstaatsdialogs sein.

Anders ist es jedoch noch um Pekings Toleranz nach innen bestellt. Dies gilt besonders, wenn die Partei wie im Fall der Verfassungsdebatten in Qingdao befürchtet, dass sich Einzelkritik zur Opposition organisieren könnte. Die KP will die alleinige Kontrolle über Reformen ausüben und das Tempo des Wandels bestimmen. So dürfen Parteizeitungen seit Ende August die Abschaffung der Administrativhaft verlangen, eines der schlimmsten Instrumente des alten Unrechtstaates.

Cao bewertet das als nur kleine Schritte auf dem Weg zur unabhängigen Rechtsprechung und demokratischen Verfassung. Seit dem Qingdao-Symposium werde er schikaniert, sagte Cao. Immerhin: Seine Firma wurde - noch - nicht geschlossen. (DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.9.2003)