Für den Präsidenten der Region Venetien und Berlusconi-Intimus Giancarlo Galan war es ein "Hinterhalt nach leninistischem Vorbild". Für den Schriftsteller Luigi Malerba eine "befreiende Aktion":

Dass der Dichter Eduardo Sanguineti die feierliche Verleihung des Campiello-Preises in Venedig zu einer Attacke gegen Silvio Berlusconi nutzte, hat in Italiens Kulturszene lebhafte Diskussionen ausgelöst. Schauplatz des Zwischenfalls war der Festsaal des Dogenpalastes, wo der 73-jährige Genuese den Preis für sein Lebenswerk entgegennahm.

Vom Moderator nach der Rolle der Intellektuellen befragt, nutzte Sanguineti das Scheinwerferlicht der Liveübertragung zu einem eindringlichen Appell an Staatspräsident Carlo D'Azeglio Ciampi, über die "Beachtung der antifaschistischen Verfassung" zu wachen.

"Italien erlebt eine kritische Phase seiner Geschichte. Jener Mann, der Giacomo Matteotti ermorden und den größten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, Antonio Gramsci, einkerkern ließ, wird wieder salonfähig", warnte Sanguineti in Anspielung an Berlusconis Mussolini-Verharmlosung.

Ein Teil der Prominenz rückte verlegen auf den Sesseln, andere applaudierten. Senatspräsident Marcello Pera demonstrierte deutliche Verärgerung: "Wir leben in einem freien und demokratischen Land, dessen Geschichte nicht dazu benützt werden darf, Barrieren zu errichten." Pera und Sanguineti gingen nach der Zeremonie grußlos aneinander vorüber. Der Campiello-Preis hatte seinen Eklat.

Während der Präsident der Region vor Wut schäumte, fand der Philosoph Umberto Galimberti durchaus Anlass zur Genugtuung: "Die Intellektuellen schlafen. Dabei ist dringend eine Mobilisierung erforderlich." Der von Fotografen umringte diesjährige Campiello-Hauptpreisträger Marco Santagata sah keinen Grund zur Aufregung. Sanguineti habe "Selbstverständliches" gefordert, meinte der Universitätsprofessor aus Pisa, dessen Roman Der Meister der bleichen Heiligen mit dem begehrten Preis ausgezeichnet wurde.

Die Reaktion von Senatspräsident Pera fand er "enttäuschend": Statt als Philosoph habe er ausschließlich als Politiker gesprochen. "Goldrichtig" fand Autor Luigi Malerba den von Sanguineti gewählten Anlass. "Echt gekonnt war das."

"Privilegiert"?

Eine Sicht der Dinge, der Erri De Luca nicht zustimmen mochte: "Ein so mondänes Ereignis scheint mir der falsche Ort für politische Appelle. Dafür gibt es Kundgebungen, Zeitungen, Veranstaltungen." Vom geforderten Aufbruch der Intellektuellen hält er wenig: "Wir sind doch bereits eine privilegierte Kaste. Da braucht es keine Appelle an die Politik", meint der Neapolitaner, der in Europa zu den meistgelesenen italienischen Autoren gehört.

Sind Italiens Intellektuelle müde? Hat der Rückzug ins Privatleben begonnen? "Weder noch", findet Mario Andrea Rigoni. "Sie sind vor allem vermessen." Der bekannte Essayist und Yale-Professor will den Intellektuellen "keine Sonderrolle in der Gesellschaft zubilligen".

Im Corriere della Sera lieferte er sich einen Schlagabtausch mit dem Autor Antonio Tabucchi, der sich für einen prominenten Intellektuellen eingesetzt hatte: Adriano Sofri. Der sitzt nach dubiosen Prozessen als vermeintlicher Auftraggeber eines vor 31 Jahren begangenen politischen Mordes im Gefängnis. Tabucchi wertet diesen Umstand als "skandalös und beschämend" und beruft sich auf "die öffentliche Meinung und das Gewissen der Bürger."

Für Rigoni ist die "Wut und Empörung" Tabucchis Ausdruck von Hybris: "Ist die Justiz zu verdammen, wenn sie unsere Freunde verurteilt, und zu verteidigen, wenn sie Gegner ins Gefängnis steckt?" Die Anmaßung liege bereits im Tonfall: "Der Intellektuelle hat bei der Beurteilung von Sachverhalten keine größere Kompetenz oder Glaubwürdigkeit als der Normalbürger", gibt sich Rigoni überzeugt.

Sofri selbst mischt im Gezänk nicht mit. "Er ist einer der führenden Intellektuellen Italiens und trägt sein Schicksal mit größter Würde", urteilt Corriere-Chefredakteur Stefano Folli in einem Amnestie-Appell. Doch Justizminister Roberto Castelli zeigt sich unnachgiebig. Tabucchi zum Verhalten des Lega-Hardliners: "Italien ist kein Rechtsstaat mehr."

Die Diskussion über die Rolle der Intellektuellen in der Politik dauert noch an, da gibt ein neues Phänomen Rätsel auf. Ein beispielloser Kulturrausch hat die Italiener erfasst. In der Mailänder Kirche S. Maria della Grazie lockte der Dante-Experte Vittorio Sermonti mit einer Lesung aus der Göttlichen Komödie mehrere Tausend Menschen an. Sein Auftritt musste über Lautsprecher auf den Platz vor der Kirche übertragen werden.

Massen-„Phänomen"

45.000 zahlende Zuschauer drängten sich beim Literaturfestival in Mantua. Alle 200 Veranstaltungen waren ausverkauft. Nicht nur jene mit Nobelpreisträger Imre Kertész – auch die Lesung der pakistanischen Parsi-Autorin Babsi Sidhwa. Hunderte stellten sich geduldig für ein Autogramm von Jonathan Franzen an. In Rom strömten Tausende zu einer Lesereihe in der Maxentius-Basilika am Forum. Paul Auster war beeindruckt: "Ein Phänomen."

Fast 50.000 Zuhörer bevölkerten am letzten Wochenende Modena. Der ungewöhnliche Anlass: das Festival della filosofia. Auf der sonnendurchfluteten Piazza Grande, in Kirchen, Innenhöfen und in den Nachbarorten Carpi und Sassuolo lauschten Tausende andächtig den Ausfühungen von Peter Sloterdijk Massimo Cacciari, Agnes Heller und Saskia Sassen.

"Was ist los? Ist der kollektive Wahnsinn ausgebrochen?", fragt der Corriere verunsichert. "Die Menschen" – mutmaßt die Zeitung – "haben von Politik und Alltagschronik die Nase voll und suchen Antwort auf wesentliche Sinnfragen."

Das Linksblatt L’Unitá gewinnt dem "Phänomen" schon konkrete Hoffnungen ab: "Wird das Schlagerfestival von San Remo durch Andrea Camilleri und Massimo Cacciari abgelöst?" (DER STANDARD, Printausgabe, 25.9.2003)