Mitten im Krieg auch noch ein Eklat, und natürlich war Aleksandar Tisma (1924 - 2003) der Anzettler: Der Betroffenheitskitsch beim Grazer Symposium Das jugoslawische Labyrinth (1995) war ihm zu viel geworden. Zuerst hatte sich der Zagreber Slawist Aleksandar Flakar als "in Polen geborener Kroate im Verteidigungskrieg" geoutet und über kroatische Folklore gesprochen; dann raunte die Lyrikerin Marusa Krese von ihren "Flügen zwischen Berlin und Sarajewo, um den Menschen Brennholz zu bringen". Das reichte, wirklich. Tisma stand auf: "Wir sitzen alle hier im schönen Graz und profitieren vom Krieg, weil man sich plötzlich für uns interessiert. Aber Krieg, das ist auch: In Novi Sad, jetzt, meine Enkelin, sie ist gerade verliebt." Skandal. Dabei hatte hier aus Tisma nicht der Provokateur, sondern der unbestechliche Realist gesprochen: Normalität und Gewalt grenzen aneinander, Alltag und Ausnahme.

Wie sehr, das ist jetzt aus seinen Tagebüchern von 1942 bis 1951 zu erfahren. Wie 1995 in Graz, so ist hier schon die große Persönlichkeit vollkommen präsent: Notate voller Besessenheit, Verzweiflung und frühreifer Beobachtungskraft. - Novi Sad mitten im Krieg. Die mit den Deutschen verbündeten Ungarn sind 1941 einmarschiert und haben im Jänner 1942 am Donauufer jenes Massaker an Juden begangen, das Tisma in Das Buch Blam vierzig Jahre später schildern wird. Tisma Sándor (seine jüdische Großmutter lebt in Budapest, wohin er immer wieder flieht) ist achtzehn und leidet auf verschiedenen Ebenen. Wie sehr und wie tief, das zeigt sich hier. So reif und zugleich so suchend sind diese Notate schlaflosen Getriebenseins. Die Suchbewegung dieses in seinen Identitäten (Bin ich Ungar, bin ich Serbe? Und wie gehe ich mit der "Rassenschande" als Halbjude um?) verunsicherten Jünglings steckt an.

Hier heraus steigt zunächst wildeste Sexbesessenheit. Der Zwanzigjährige braucht jede Nacht mindestens eine Frau: "Umherirren durch Straßen, Tripper, dann während der Therapie Begegnung mit Gabi - Trennung, wieder Umherirren (die Blondine im "Royal"), die Rache an den kleinen Straßendirnen, und Tod." Zu diesem Zweck gibt er sich gegenüber Dirnen als Detektiv aus, "ich weide mich an ihrer Angst und drücke dann ein Auge zu, damit sie mir zu Willen sind. Bin ich ein Sadist? Oder nur ein rückständiger Orientale, ein machtgieriger Despot ohne Untertanen?" Er ist alles davon, denn er ist schon ein Dichter, und ein solcher muss alles sein. Überdies ist Tisma seinerseits ja von Despoten unterdrückt. In diesem Zusammenhang ist die Sexgier zu sehen. Und das alles mitten im Krieg - so viel "Privates", verformt durch die Zeit. Genau deshalb brauchen diese Tagebücher nicht von Bomben oder Brennholz sprechen; beides spiegelt sich in der inneren Unruhe. Und in den ersten Texten, die er zu schreiben beginnt.

Was macht einen großen Dichter aus? In seinen späteren Romanen über Kriegs- und Nachkriegszeit in Novi Sad ("O kleine Stadt, ich bin dein, solange ich lebe, ich werde dich hassen wegen all der Verletzungen und mich nach dir sehnen, weil du mich mit deiner naphthalinduftenden feuchten Wärme umgeben hast": 24. 6. 1947) wird Aleksandar Tisma ein Meister des Versenkens in fremde Menschen und fremde Weltanschauungen werden. Aber diese geniale Fähigkeit ist schon um 1943 "da", als er Proust liest. Sie hängt zusammen mit dem, was ihn in diesen Jahren so quält und unsicher macht: Dass er keine feste "Identität" hat. Dieser Mangel wird Grundlage seiner Kunst, weil er sich, selbst schmerzhaft aufgerissen, in viele andere Positionen und Ängste versetzen kann: "Meine Natur nämlich strebt nach äußerster Aufrichtigkeit und völliger Versenkung in Erscheinungen und Beziehungen", notiert Tisma 1943, als er eine Erzählung über das Jahr 1941 zu schreiben beginnt. In diesen Jahren hielt er sich oft im nahen Budapest auf, das er im Essay Die Meridiane Mitteleuropas (1961) - diesem Band vom Verlag unkommentiert beigegeben - noch einmal beschwört. Um sich zu verstecken, um "Frauen zu jagen" und weil hier "Krieg" ganz anders war als im Klischee: "Diese Kriegsjahre in Pest, das den Krieg nicht als Realität anerkannte; wo täglich Alarm war, aber ebenso täglich getanzt wurde." - Mit solchem Freiheits-Blick, hin auf das Licht über dem Arbeitslager etwa, begleitet Tisma im Tagebuch auch seine Zwangsarbeit in Transsilvanien 1944.

Jahrelang zweifelt er an seiner Begabung. Seine Unsicherheit treibt ihn 1945 sogar in die Partei, die eine Auslöschung des "Ich" verspricht. Dabei ahnte Tisma schon 1944, was später sein Werk zur Weltliteratur machen wird: "Es hat nichts Folkloristisches. Das Soziale darin ist allgemeinmenschlich, aber durch alles strömt der Balkan, die Backa, die Kleinstadt, der Marktplatz." - So früh hat er alles gewusst, Zeuge zerrissener Psyche, verlogener Zeit. []

Aleksandar Tisma, Reise in mein vergessenes Ich. € 22,-/320 Seiten. Hanser, München/Wien 2003.