Mutter-Kind-Untersuchung im medizinischen Zentrum von Jakoruda.: Die sozialistische Familienpolitik zur Anhebung der Geburtenrate in Bulgarien ab den 50er-Jahren zeigt erstaunliche Ähnlichkeiten mit den "Anreizen" im "Westen" heute.
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Bereits das sozialistische Bulgarien hatte mit drastisch sinkenden Geburtenraten zu kämpfen. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zeigt, mit welchen Mitteln dieser Staat zu mehr Kindern kommen wollte. Mit dem Problem der zunehmenden Fortpflanzungsunwilligkeit, das in Österreich eine emotionsgeladene Wertedebatte und eine panische Suchaktion nach Maßnahmen zur Gegensteuerung losgetreten hat, ringen die ehemals sozialistischen Staaten im Südosten Europas schon seit Jahrzehnten. Dass es sich dabei um die logische Folge einer familienfeindlichen Ideologie handelt, ist allerdings ein Vorurteil: "De facto hat die sozialistische Politik bis auf wenige Jahre nach der Russischen Revolution darauf abgezielt, die Familie zu stärken", erklärt der Historiker Ulf Brunnbauer von der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte an der Universität Graz.

Keimzelle der Gesellschaft

In einem vom Wissenschaftsfonds geförderten Forschungsprojekt unter der Leitung von Karl Kaser über die Rolle von Familie und Frau im sozialistischen Bulgarien konnte Brunnbauer aus dem Vergleich von Ideologie und Realität eine Reihe von Erkenntnissen gewinnen, die in der aktuellen österreichischen Debatte durchaus als "Erfahrungswerte" nutzbar wären: "Auch im sozialistischen Bulgarien", erklärt Ulf Brunnbauer, "galt die Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Wenn man sich die Schriften der bulgarischen Familientheoretiker in den 60er-und 70er-Jahren anschaut, findet man viele Punkte, die man heute eher konservativen Politikern in Westeuropa zuschreiben würde."

So wurde etwa die große Bedeutung stabiler Familien für die Gesellschaft ebenso hervorgehoben wie ihre Verpflichtung, Kinder in die Welt zu setzen. Überdies gab es in Bulgarien ein eigenes Familienrecht, in dem die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Familie verankert waren. Konsequenterweise wurde die Ehe staatlich forciert, indem viele Sozialleistungen an eine Heirat gekoppelt waren. Trotz der hohen Scheidungsraten ist es für Bulgaren und Bulgarinnen nach wie vor sehr unüblich, ein Leben lang unverheiratet zu bleiben.

Patriarchalische Strukturen

Die Familie als solche wurde also nicht infrage gestellt. Was man allerdings erneuern wollte, war die traditionelle bulgarische Familie mit ihren patriarchalischen Strukturen, die gezielt demokratisiert werden sollten. Als wichtigste Hilfsmittel dafür erkannte man die Berufstätigkeit und die Bildung der Frauen. Die Bestrebungen, diese auch tatsächlich anzuheben, waren sehr erfolgreich. In den 80er-Jahren waren bereits fast alle Bulgarinnen im arbeitsfähigen Alter berufstätig, und ihr durchschnittliches Bildungsniveau war höher als jenes der Männer.

Die hohe Frauenbeschäftigung und -bildung hatte jedoch die gleiche Folge wie in allen anderen industrialisierten Staaten: Die Geburtenraten sanken drastisch. Ein Prozess, der in Bulgarien allerdings noch schneller fortschritt als in anderen Ländern.

Veränderte Geschlechterrollen

Eine der Ursachen sieht Ulf Brunnbauer in der extrem schnellen Urbanisierung, die in den 50er- und 60er-Jahren mit der Industrialisierung einherging. Eine zentrale Rolle beim Verlust der Gebärfreude spielten sehr wahrscheinlich auch die - teilweise - veränderten Geschlechterrollen. "Die Frauen waren selbstbestimmter als in der traditionellen bäuerlichen Gesellschaft, gleichzeitig zeigen aber Studien aus jener Zeit, dass die Männer nach wie vor die Familien dominierten und sich an der Hausarbeit so gut wie gar nicht beteiligten", berichtet Brunnbauer. Diese Haushaltsabstinenz der Männer wirkte sich in sozialistischen Gesellschaften besonders negativ aus, da mit der Hausarbeit aufgrund einer geringeren Technisierung der Haushalte und der unbequemen Versorgungsstrukturen ein großer Zeitaufwand verbunden war. Trotz aller staatlichen Gleichstellungsbemühungen waren es also fast ausschließlich die Frauen, die neben ihrem Beruf die Haushaltsbürde zu tragen hatten.

Mangel an Betreuungsplätzen

Auch der Mangel an Wohnraum und Kinderbetreuungsplätzen dürfte die Lust am Kinderkriegen nicht gerade geschürt haben: "Besonders problematisch war die Versorgung der unter Dreijährigen", erklärt Karin Taylor, die im Rahmen des Projekts auch zahlreiche Interviews vor Ort geführt hat. "Betreuungsplätze standen nur für 18 Prozent der Kinder in diesem Alter zu Verfügung. Diese Einrichtungen waren außerdem sehr unbeliebt, da sie schlecht und fast militärisch geführt wurden. Besser versorgt war man mit Kindergartenplätzen, die dann gemeinsam mit der systematischen Unterstützung der Großmütter auch die hohe Frauenbeschäftigung ermöglichten."

Um den Frauen trotz Doppelbelastung, unzureichender Kinderbetreuung und drohenden Karriereknicks das Kinderkriegen schmackhaft zu machen, gab es beträchtliche staatliche Beihilfen. Mit der finanziellen Unterstützung allein aber ließ sich die Fertilität nicht anheben. "Die Rahmenbedingungen haben einfach nicht gestimmt", ist Karin Taylor überzeugt. "Der Staat hat keine ausreichende Infrastruktur geboten und sich auch nicht bemüht, die traditionelle Rollenverteilung in der Familie zu ändern." So kam es, dass sich die meisten Jungfamilien zwar mehrere Kinder gewünscht haben, ab den 70er-Jahren in der Regel aber nur noch eines oder zwei hatten.

Werbung für Mutterglück

Gefördert wurde zumindest der Wunsch nach Kindern durch Kampagnen in den Massenmedien, in denen die Mutterschaft als einzig wahre Glücksquelle der Frau gepriesen und die Fortpflanzung als patriotische Pflicht dargestellt wurde. Kinderlose Eheleute erschienen in den Medien als zumindest eigenartige Persönlichkeiten, und die psychische Benachteiligung von Einzelkindern wurde immer wieder öffentlich diskutiert. Familienideologen kritisierten den "philisterhaften Eigensinn" und die "Konsumorientierung" junger Paare, welche die berufliche Realisierung dem Kinderkriegen vorzogen. Unverheiratete und langjährig kinderlose Ehepaare mussten nach 1968 sogar eine Strafsteuer zahlen.

Annäherung an den Faschismus

Neben materiellen Anreizen und ideologischem Druck versuchte der Staat auch durch Abtreibungsverbote die Fortpflanzungsaktivität seiner BürgerInnen anzukurbeln. So wurde 1968 die Abtreibung für noch kinderlose Frauen verboten, Frauen mit ein oder zwei Kindern wurden vor eine eigene Kommission zitiert. Frei entscheiden konnten nur Frauen mit drei und mehr Kindern. Ab 1973 hatten auch Frauen mit nur einem Kind kein Recht mehr auf Abtreibung nach Wunsch. Da dieses Gesetz jedoch nicht sehr konsequent umgesetzt wurde, gab es in den späten 70er-Jahren bereits mehr Abtreibungen als Geburten.

All diese staatlichen Bemühungen um Nachwuchs - von der finanziellen Unterstützung über die Indoktrination bis zu den Sanktionen - haben jedoch nicht dauerhaft gefruchtet. Die Einführung großzügiger Familienbeihilfen sowie ausgedehnter Karenzmöglichkeiten ab 1968 hoben die Geburtenrate zwar kurzfristig leicht an, ab den frühen 1970ern setzte sich der Negativtrend aber wieder ungebremst fort. Heute hat Bulgarien eines der niedrigsten Geburtenniveaus in ganz Europa. (Doris Griesser/DER STANDARD, Printausgabe 24./25.09.2003)