Ein Betrugsskandal erschüttert eine der angesehendsten Zeitungen der Welt. Ein 27-jähriger Reporter der "New York Times" soll systematisch Reportagen erfunden haben. Nun recherchieren seine Kollegen, um die möglichen Fälschungen aufzuklären. Auch die Leser sollen helfen, berichtet "Spiegel-Online" am Sonntag.

So etwas hat es in der Historie des ehrwürdigen New Yorker Blattes noch nicht gegeben: Die Titelseite ihrer Sonntagsausgabe (Auflage 1,7 Millionen) macht die Redaktion mit einer detaillierten Geschichte in eigener Sache auf, die sich dann über mehrere Seiten zieht. In schmerzvollen Zeilen berichtet ein Recherche-Team der Zeitung von den Ergebnissen einer umfangreichen Untersuchung. Ein junger Times-Reporter soll, offenbar vom Ehrgeiz getrieben, über Monate Geschichten gefälscht und erfunden haben. Weder Ressortleitern, noch Chefredaktion waren die Machwerke rechtzeitig aufgefallen.

Entschuldigung der Redaktion

In einem Editorial entschuldigt sich die Redaktion bei ihren Lesern. Das journalistische Denkmal wankt: Die Affäre ist den Zeitungsmachern so unangenehm, ihre Aufklärung ihnen so wichtig, dass sie selbst die Leser um Mithilfe bitten. Unter der E-Mail Adresse "retrace@nytimes.com" sollen sie Hinweise auf Artikel schicken, die der 27-jährige Times-Redakteur Jayson Blair ganz oder in Teilen erfunden haben könnte. Die Redaktion trennte sich am 1. Mai von dem Reporter.

Im Verlauf von vier Jahren hatte Blair, dessen Arbeit unter Kollegen als besonders "fruchtbar" galt, mehr als 600 Artikel verfasst, die inzwischen alle auf dem Prüfstand stehen. Seit vergangenem Oktober wurde Blair landesweit für Reportagen eingesetzt. In 36 von 73 Artikeln, die er seitdem schrieb, stießen Kollegen auf grobe Unstimmigkeiten oder entdeckten gar große Passagen, die schlicht erfunden waren. Teilweise war der Reporter gar nicht an den Orten, über die er schrieb, dachte sich Emotionen von angeblichen Interviewpartnern aus, oder schrieb aus anderen Zeitungen einfach ab.

Kommunikationsprobleme

Die Times führt mehrere Gründe an, weshalb die Fehler nicht früher auffielen. So habe es Kommunikationsprobleme unter Vorgesetzten gegeben, nur wenige der Betroffenen hätten sich über Blairs Artikel beschwert und der Reporter habe es ausgesprochen gut verstanden, seine Spuren zu verwischen.

Den offenbar systematischen Schwindel ergab eine akribische interne Untersuchung der New York Times-Redaktion, die noch längst nicht abgeschlossen ist, aber jetzt schon zu einem in der Geschichte der New York Times einmaligen Eingeständnis führt: Jayson sei zum routinierten Betrüger geworden, zu Lasten der Ehre der Zeitung. Das journalistische Grundprinzip der New York Times besteht darin, nahezu alle Artikel, die in einer Ausgabe stehen, selbst zu recherchieren. Doch dabei habe Blair das wichtigste Grundprinzip des Journalismus verletzt - der Wahrheit verpflichtet zu sein. "Seine Tatwerkzeuge waren sein Handy und sein Laptop, mit denen er seine wahren Aufenthaltsorte verschleiern konnte", schreibt die New York Times.

Vertrauensbasis aufgehoben

Blairs Dienstzeit als einer von 375 Redakteuren des Blatts sei zwar vergleichsweise kurz gewesen, aber der angerichtete Schaden, den Ruf der Zeitung und seiner Mitarbeiter beeinträchtigt zu haben, werde in den nächsten Wochen, Monaten oder Jahren noch nicht verflogen sein, kommentiert das Blatt. Er habe "die Vertrauensbasis zwischen Lesern und der Zeitung aufgehoben", beklagt in der Zeitung Arthur Sulzgeber Jr., der Vorsitzende der New York Times Company.

Nun versucht die Redaktion, durch konsequente Veröffentlichung alle Fehler Jaysons aufzudecken und zu korrigieren. Ein Team aus fünf Redakteuren, unterstützt von zahlreichen Rechercheuren, prüft Artikel für Artikel nach. So wird in der aktuellen Wochenendausgabe der New York Times chronologisch geschildert, welche Fehler Jayson bisher nachweisbar sind. Auf 13 Seiten, die im Internet ausgedruckt werden können, ist sein vorläufige Sündenregister aufgelistet.

"Virtuelle Reise"

Mal habe er "gelogen", als Augenzeuge einer Gerichtsanhörung in Virginia beizuwohnen oder vorgegeben, in Maryland einen Polizeichef aufgesucht oder in West Virginia vor dem Haus eines Soldaten Stimmungen eingefangen zu haben. In Bethesda habe er sogar einen Artikel "fabriziert", der die Leiden von verwundeten Soldaten im Irak-Krieg beschreibt. Jayson hatte zwar einen verwundeten Corporal am Telefon befragt, dann aber Gesprächspassagen erfunden und den Soldaten auch nicht persönlich aufgesucht, wie er in seinem Text suggerierte.

Er unternahm nur eine "virtuelle Reise" resümiert jetzt seine Redaktion. So seien Szenen die er aus Bethesda beschrieben habe "vom ersten Wort an unwahr" gewesen, weil er vorgab, als Augenzeuge vor Ort gewesen zu sein. Doch bitter-lakonisch stellt die New York Times jetzt richtig: "Er war es nicht".

Die New York Times ist das meistgeehrte Blatt in den USA. Allein im vergangenen Jahr heimste die Redaktion sieben Pulitzer-Preise ein. Nun soll eine zweite interne Untersuchung in die Wege geleitet werden: Wie ähnliches in Zukunft ausgeschlossen werden kann, damit sich ein solcher "Tiefpunkt" in der 152-jährigen Geschichte der Zeitung nicht wiederholt. (APA)