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Schloss Hartheim - einer der Orte, an denen Euthanasie durchgeführt wurde

Foto: APA/Rohrhofer
Wien/Berlin - "Im Herbst 1944 kam ich für cirka vier Wochen nach Hartheim, es können auch sechs Wochen gewesen sein. Meine Tätigkeit bestand lediglich darin, Akten zu vernichten." Dies sagte eine österreichische Verwaltungsmitarbeiterin der so genannten NS-Euthanasieaktion 1965 vor der deutschen Staatsanwaltschaft Wiesbaden aus.

Ein ganzer Trupp von Aktenvernichterinnen hatte sich damals wochenlang bemüht, die Spuren der von den Nationalsozialisten organisierten Massenmorde an "lebensunwerten" Menschen zu beseitigen. Nicht nur in Hartheim bei Linz, auch in den anderen NS-Tötungsanstalten im gesamten früheren Reichsgebiet. Was nicht ganz gelungen ist.

Das deutsche Bundesarchiv und die Bundesärztekammer stellten in Berlin ein Quellenarchiv über die "NS-Euthanasie" in Deutschland, Österreich, Polen und Tschechien vor. Die Datenbank ist im Internet zugänglich und stößt in Österreich auf Unmut - nicht der Sache wegen, sondern ob des Hintergrundes.

Erst spät und zögerlich nahm sich die Forschung dieses Themas an. Und immer wieder waren die wenigen Wissenschafter mit dem Problem konfrontiert, die einschlägigen, weit verstreuten Dokumente überhaupt ausfindig zu machen. Mit dem neuen Archiv soll diese Hürde nun überwunden und der Forschung Impulse gegeben werden, viele noch offene Fragen zur Geschichte der "NS-Euthanasie" aufzuarbeiten.

Rund 200.000 psychisch kranke, sozial auffällige und geistig, teils auch körperbehinderte Männer, Frauen und Kinder wurden damals in Spitälern und Heimen gezielt zu Tode behandelt.

"Wie müssen uns der Wahrheit stellen", erklärte Karsten Vilmar, Ehrenpräsident der deutschen Bundesärztekammer, "Ärzte haben in der Zeit des Nationalsozialismus Tod und Leiden von Menschen herbeigeführt, angeordnet oder gnadenlos verwaltet." Für das Zustandekommen der Datenbank dankte Vilmar auch der "Österreichischen Ärztekammer, die daran mitgewirkt hat". Komisch nur, dass die nichts davon weiß.

"Es hat niemals eine Kontaktaufnahme gegeben", stellte Rainer Brettenthaler, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, am Mittwoch klar: "Es ist unerträglich, in einigen Fällen zu wissen und in anderen zu vermuten, dass heimische Ärzte an diesen Verbrechen beteiligt waren. Deshalb hätten wir uns eine Mitarbeit gewünscht."

Aber auch das Wiener Institut für Geschichte der Medizin wurde nicht kontaktiert. "Das hat seinen Grund im Umgang der offiziellen deutschen Ärzteschaft mit der NS-Medizin", erklärt Institutsvorstand Michael Hubenstorf: Auch wenn die Intention, die Wissenschaft dadurch zu fördern, begrüßenswert sei, so sei doch die Datenbank eine "Profilierung". Denn Forschung in diesem Bereich werde weiterhin politisch wie finanziell blockiert. Auch in Österreich.

Erst nachdem in Deutschland eine Verantwortung der Ärzteschaft für die damalige Zeit nicht länger abgestritten werden konnte, habe sie sich dem Thema offiziell aber widerwillig gestellt, erklärt Hubenstorf. "Doch wurden kritische Medizinhistoriker aus Schlüsselpositionen verdrängt, durch Sozialwissenschafter, die nicht so sehr am Glanz der Ärzteschaft kratzten, ersetzt." So stelle die Datenbank wohl den Schlussstrich der wissenschaftlichen Beteiligung der offiziellen deutschen Ärzteschaft an der Aufarbeitung der NS-Verbrechen dar. Forschungen, die in die Tiefe gehen und dabei auf nach dem Krieg rehabilitierte Schuldige stoßen könnten, würden in Deutschland kaum gefördert. Und hier?

"Auch nicht", ärgert sich Hubenstorf. Österreich habe erst 1996 begonnen, sich des Themas anzunehmen: "Nachdem die USA Druck gemacht hatten, das Zustandekommen der Anatomieatlanten von Eduard Pernkopf zu untersuchen." Der Wiener Mediziner hatte sich zur Erstellung seiner Lehrbücher der Opfer der NS-Justiz bedient. Dann tauchten die auch vom Wiener Psychiater Heinrich Gross eingelegten Hirne von Kindern auf, die an der früheren NS-Euthanasieanstalt "Am Spiegelgrund" ermordet worden waren. "Da konnte man auch nicht mehr viel vertuschen."

Viele offene Fragen

Doch die wenigen Forschungsarbeiten über die NS-Euthanasie in Österreich bezögen sich nur auf Einzelpersonen oder bekannte Einrichtungen wie eben Hartheim, Spiegelgrund und Graz-Feldhof. Flächendeckende Studien gebe es aber nicht, also seien etliche Fragen offen: "Wie viele kleine, den großen Tötungsanstalten vorgelagerte Einrichtungen hat es gegeben und welche Rolle spielten sie? In Kärnten gab es im Rahmen der NS-Euthanasie wenigstens eine Einrichtung - bis heute kennen wir sie nicht." Interessant wäre laut Hubenstorf auch herauszufinden, welche Personen wie in die Verbrechen verwickelt waren und was mit ihnen nach dem Krieg passiert ist. Denn, apostrophiert der Medizinhistoriker: "Die NS-Euthanasie hierzulande war hausgemacht. Das waren keine Deutschen, das waren Österreicher."

Und warum gibt es keine entsprechenden Forschungen? "Weil keiner Geld dafür ausgeben will." Derartige Wissenschaft werde nicht privat finanziert, weil die Ergebnisse ökonomisch uninteressant seien. Und die öffentliche Hand bedauere permanent die prekäre Budgetsituation. Selbst die geplante Gedenkstätte für die ermordeten Kinder Am Steinhof sei "aus finanziellen Gründen gestrichen worden. Dass ich nicht lache. Die Politik will nicht allzu viel über diese Vergangenheit wissen, zu lange haben die Parteien auch zum Selbstschutz sich und der Öffentlichkeit eingeredet, dass es die Deutschen waren." Hubenstorf erhält Unterstützung von Ärztekammerpräsident Brettenthaler: "Die gesamte Republik entzieht sich diesem Thema, daran können Sie sehen, woher der Wind weht." (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. 10. 2003)