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"Ich möchte mit dem SA-Mann tauschen. Ich habe noch nie so viel für einen Besuch erhalten", schreibt Sigmund Freud am 15. März 1938: Die Nationalsozialisten führten bei den Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) Hausdurchsuchungen durch und beschlagnahmten bei Freud in der Berggasse einen Betrag von 6000 Schilling.

Zu dieser Zeit ist die Vereinigung bereits aufgelöst, und als der 82-jährige Sigmund Freud am 4. Juni schließlich den Orientexpress von Wien nach Paris besteigt, von wo er ins Londoner Exil fliehen sollte, ist das Schicksal der Psychoanalyse in Wien besiegelt.

Ein internationales Symposium in Wien beschäftigte sich am Wochenende mit der "Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien und ihren Folgen". Und die sind bis heute spürbar. Schließlich wurde mit der brutalen Zerschlagung der psychoanalytischen Schule nicht nur eine klinisch angewandte Wissenschaft unterbrochen. Durch die gewaltsam erzwungene Flucht der Wissenschafter aus verschiedensten Disziplinen - Mediziner, Pädagogen, Soziologen, Juristen und Philosophen - wurde auch die psychoanalytische Kultur- und Gesellschaftstheorie vertrieben. Doch gerade diese wäre angesichts der heutigen gesellschaftspolitischen Tendenzen von größter Wichtigkeit, bedauerte die Wiener Pädagogin und Soziologin Gertraud Diem-Wille, Lehranalytikerin der WPV.

Nur drei der insgesamt 102 Mitglieder der WPV konnten nach dem Anschluss in Wien bleiben, alle anderen mussten emigrieren, primär nach Großbritannien und in die USA. Zwar war die Psychoanalyse - in der Nazidiktion als "Seelenheilkunde" bezeichnet und damit auf eine rein klinische Anwendung als mögliches Manipulationsinstrument degradiert und missbraucht - dem Hitlerregime generell ein Dorn im Auge. Der Grund für die Zerschlagung der WPV lag aber woanders: "Ihre Mitglieder waren fast alle Juden", erklärte der Wiener Sozialpädagoge und Psychoanalytiker Thomas Aichhorn.

So konnte die Berliner Psychoanalytische Vereinigung, die in den 20er-Jahren beinahe größere Bedeutung erlangt hatte als die Wiener, auch nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 bis November 1938 fortbestehen. Nachdem sie sich angepasst und ihre jüdischen Mitglieder ausgeschlossen hatte. Schon damals begann die Emigrationswelle der Psychoanalyse, die Anna, Sigmund Freuds Tochter, als "neue Ära der Diaspora" bezeichnete - erinnernd und gemahnend an die Folgen der Zerstörung des Tempels von Jerusalem.

Rückzug und Isolation

"Mit der Errichtung eines katholischen faschistischen Regimes durch Dollfuß begann aber 1934 auch das Ende der Psychoanalyse in Wien", stellte die Psychologin und Wissenschaftshistorikerin Elke Mühlleitner aus Giessen, Deutschland, fest. Mit dem Verbot der Sozialisten und Kommunisten - viele ideologisch links stehende Psychoanalytiker wurden verhaftet - begann sich auch die WPV ins Private zurückzuziehen, klinische Anwendung der Psychoanalyse in den Praxen wurde wichtiger als der öffentliche Diskurs und die Auseinandersetzung mit politischen Ereignissen. Fatal, denn schon Sigmund Freud stellte fest: der Analytiker solle nicht isoliert sein. Hatte es sich doch gerade die Psychoanalyse zur Aufgabe gemacht, das brodelnde Entstehen jener Kräfte ans Licht zu bringen, vor denen sie nun klein beigab.

"Die folgenreichste Wendung aber", versuchte Mühlleitner einen Grund für das Abreißen und Nicht-mehr-Anknüpfen der psychoanalytischen Kultur- und Gesellschaftstheorie bis heute zu skizzieren, "führte die Vereinsleitung der WPV selbst herbei": Sie sprach ein teilweises Verbot der Behandlung von politisch engagierten Patienten und des Mitwirkens am Widerstand aus. "Aus Angst vor dem eigenen Ende zog man sich ins apolitisch Private zurück." Eine Tendenz, die nicht nur innerhalb der Psychoanalyse zu sehen gewesen sei, sondern bei weiten Teilen der gesamten Bevölkerung und die noch heute in vielen Bereichen sichtbar sei, analysierte Mühlleitner. So müsse endlich wieder Aufgabe der Psychoanalyse - und nicht nur der - sein, sich der Politik zu stellen. Denn, wie die Geschichte zeigt, schütze auch politische Abstinenz nicht vor Repression.

Dem pflichtete auch Michael Hubenstorf, Vorstand des Wiener Instituts für Geschichte der Medizin bei, der die österreichische Republik "Abrissunternehmen" nannte: Nachdem der "Schwindel von wegen erstes Opfer" heute nicht mehr taugt, versuche sie gleich alles hinter sich abzureißen, zu verdrängen.

Und Marianne Enigl, Redakteurin beim Nachrichtenmagazin profil analysierte die bisherige "offizielle Aufarbeitung" der Vergangenheit als "Verwertungsdenken der Politik". Die habe die Restitution als "Eintrittskarte in die internationale Staatengemeinschaft" benutzt. Was aber steckt hinter all dem?

"Ich bin mir nicht sicher, ob die Psychoanalyse für all das eine Erklärung liefern kann", zeigte sich die Wiener Neurologin und Analytikerin Elisabeth Brainin skeptisch. "Und wenn sie es könnte, brächte dies eine Veränderung?" Aus analytischer Sicht könne zur Gegenwart jedenfalls festgestellt werden, "dass es keine Verdrängung der Vergangenheit ist - sondern eine Beschönigung und eine Lüge." (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. 10. 2003)