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Russland präsentiert sich in Frankfurt als heile Welt und mit allen Klischees: Ein tatarischer Verlag frönt der Folklore.

Foto: APA/dpa/May
Auf der 55. Frankfurter Buchmesse präsentiert das Gastland Russland "Neue Seiten" wie alte Klischees. Und Joschka Fischer, der deutsche Außenminister, nutzt die Gunst der Stunde zu Bekenntnissen eigener Art.


Es mag Zufall sein. Unter den Bänden, die im Pavillon des Gastlandes Russland auf der Buchmesse das Werk des Fotografen Boris Mikhailov ehren, fehlt der vielleicht wichtigste, mit Sicherheit aber umstrittenste: Case History. Monatelang hatte Mikhailov den unerbittlichen Blick seiner Kamera auf jenes Phänomen gerichtet, das auch zu jenen "Neuen Seiten" der postkommunistischen Gesellschaft zählt, die das Motto abgeben, unter dem sich Russlands Literatur vorstellt: die Armut, die Obdachlosigkeit.

Mikhailovs Bilder der Obdachlosen von Charkov, seiner Geburtsstadt, sind bedrückend bis zur Unerträglichkeit. Weder belässt er den Menschen ihre Anonymität noch ihr für Bessergestellte oft pittoresk anzusehendes Alltagselend in Lumpen und Alkohol. Vor Mikhailovs Kamera zeigt die Armut ihr zerstörerisches Werk am nackten Leib: Körper, an denen Wunden eitern, Körper, von Geschwüren aufgebläht, todgeweiht.

Das Fehlen von Case History in den Regalen des russischen Pavillons mag, wie gesagt, ein Zufall sein. Dennoch: In das staatstragende Selbstporträt, das Putins Russland von sich entwirft, hätte das Buch kaum gepasst. Dort präsentiert sich russische Kultur in Form von eingeflogenen Spitzenklöpplerinnen und Porzellanmalerinnen, ergänzen Bernstein und Matriuschkas, die Holzpuppen, das Klischee vom Mütterchen an der Wolga.

Die stolze, männliche Gegenwart aber hat am Samstag, exakt um 10.14 Uhr, ihren Auftritt: Dann nämlich soll auf der riesigen Leinwand eine Liveschaltung den Pavillon mit den Kosmonauten im Weltall verbinden. Wenig unterscheidet also das offizielle Pavillon-Russland Putins von dem der Sowjetzeit - wären da nicht die neuen Buchpublikationen in den Regalen.

Ein Autor war es denn auch, Wladimir Makanin, der die Armut zurückholte in den feierlichen Eröffnungsakt am Dienstagabend. Auf die fiktive Frage eines Slawisten, warum der Held im zeitgenössischen russischen Roman denn so demonstrativ arm sei, wo es doch heute in Moskau so viele ungemein reiche Menschen gebe, holte Makanin aus zu einer Reise durch die Literatur - und die Realitäten - des 20. Jahrhunderts, die ihn zu Iwan Denissowitsch führte, in Solschenizyns Archipel Gulag, und zuletzt zurück in die Gegenwart seines eigenen Schreibens. Underground oder Ein Held unserer Zeit, Makanins jüngster Roman, der eben in deutscher Übersetzung bei Luchterhand erschien, entwirft das durchaus ambivalente Bild eines selbst ernannten Untergrundpoeten, dem die Literatur abhanden kommt.

Das offizielle Deutschland, vertreten durch Christina Weiss, die Staatsministerin für Kultur, vermied jeden unangenehmen Punkt, die umstrittene Wahl in Tschetschenien ebenso wie die mangelnde Pressefreiheit in Russland, und konzentrierte sich auf das unverfänglichste aller Themen: Sie sang das verdiente Loblied der oft vernachlässigten Übersetzerzunft, der erstmals in Frankfurt ein eigenes Forum gewidmet ist.

Außenminister Joschka Fischer fehlte ebenso in Frankfurt wie Bundeskanzler Gerhard Schröder. Letzterer befand sich zwar durchaus in russischer Mission, allerdings in Russland, um mit Putin dessen Geburtstag zu zelebrieren.

Fischer aber machte seiner Liebe zum Kulturgut Buch am Dienstagabend andernorts Luft - in Elke Heidenreichs quotenstarkem ZDF-Buch-Werbeformat lesen!. Auf der Bühne der Kölner Kinderoper thronend, besann sich der Außenminister seiner Vergangenheit als Buchhändler. Wobei ihm nur leider der Name seines einstigen Ladens im Frankfurter Stadtteil Bockenheim entfallen sein musste: Karl-Marx-Buchhandlung. Das war damals. Heute erinnert sich der nunmehr soigniert gefaltete Minister lieber an frühere Phasen seines Lesehungers. "Ich hab' als Junge sehr viel gelesen" - naturgemäß "unter der Bettdecke, mit der Taschenlampe" - "sehr viel Karl May". Oder Wichtelhausen. Sein erstes Buch.

Gedrückte Stimmung

Sollte Fischer seine Wichtelhausener Leseleidenschaft auch nach der dreißigminütigen Sendung noch bewegen, wäre ihm doch der Umweg nach Frankfurt zu empfehlen. Am Mittwochmorgen eröffnete die 55. Buchmesse endgültig ihre Pforten für das Fachpublikum. Noch liegt der Streit über den Standort in der Luft. Zwar sind die Verträge nun bis 2010 fixiert, zwar verzeichnet die Ausstellerstatistik den Verunsicherungen zum Trotz erstmals seit zwei Jahren wieder ein leichtes Plus - 6611 Einzelaussteller aus 102 Ländern haben sich heuer für die Teilnahme entschieden, rund 1000 Autoren werden anreisen, über 3000 Veranstaltungen runden das Programm ab -, doch die Stimmung ist gedrückt. Denn die Verkaufszahlen für die Ware Buch sinken unaufhaltsam. Weitere zwei Prozent Absatzrückgang prognostiziert die Branche bis Ende 2003. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.10.2003)