In den Geistes- und Kulturwissenschaften ist Wien von der "Weltklasse-Uni" weit entfernt: "In Kontinentaleuropa sind wir zweit- bis drittklassig - einen weltweiten Vergleich will ich gar nicht erst ziehen", sagt André Gingrich. Und die "Zentren der Stagnation" sieht der Sozial- und Kulturanthropologe dort, wohin seit Jahrzehnten die Gelder geflossen wären - in der Philosophie und den Geschichtswissenschaften.

Dennoch bringe die Wiener Uni noch immer Spitzenkräfte hervor, "interessanterweise vor allem in kleinen und beweglichen Fächern": Die Erfolge der letzten zehn bis fünfzehn Jahre fänden sich in der asiatischen Philologie, der Sprachwissenschaft, den Cultural Studies. "Obwohl es natürlich auch in einzelnen Zirkeln der Geschichte oder Germanistik Best-Case-Examples gibt", sagt Gingrich.

Außeruniversitäre Forschung besser ausgeprägt

Deutlich besser falle die Bilanz jedoch aus, wenn die Forschung außerhalb der Uni mit einbezogen wird: "Außeruniversitäre Forschung ist bei uns stärker ausgeprägt als in den USA oder Großbritannien", so Gingrich. Die Verbindung zwischen außeruniversitärer und universitärer Forschung sieht die Philosophin und Mitbegründerin des Gender-Kollegs an der Uni Wien, Alice Pechriggl, als eine der Stärken Wiens, "hier ist Frankreich deutlich schwächer".

Auf die starke Vernetzung seien die "Externen" auch angewiesen, sagt Pechriggl. Einerseits aus pragmatischen Karriere-Überlegungen - andererseits aus erkenntnistheoretischen Gründen. Doch mittlerweile werde die Vernetzung bei vielen Projekten zum Muss und "durch die unheimliche Ressourcenverknappung" zunehmend schwieriger: "Es gibt kaum Ressourcen für das Vernetzen selbst - das muss in zukünftigen Projekten eingeplant werden", moniert Pechriggl. Auch um Stärken ausbauen zu können: "Bei den Kontakten nach Osteuropa hat Wien durchaus einen Standortvorteil", so Pechriggl. Wie auch in der interdisziplinären Genderforschung - "in Frankreich hat sich das erst in den letzten Jahren stärker durchgesetzt". Doch überall fehle es an den Mitteln.

Rückstau an den Unis

Mehr Projekte braucht das Land, stimmt Gingrich zu, aber nicht unbedingt größere: "Rückblickend sind eher die mittelgroßen bis kleinen Projekte erfolgreich", hier könnten sich Kleingruppen bilden, die sich dann horizontal vernetzen. Vorbildwirkung hätten hier die "European Doctorate Programs", bei denen mehrere Unis und Fächer sich um einen Themenkomplex zusammenschließen. Doch sonst seien die Vorgaben für EU-Projekte oft stark auf allzu große Teams ausgerichtet.

Innerhalb Österreichs müsse es nun darum gehen, bessere Möglichkeiten für Nachwuchswissenschafter zu schaffen. Gingrich spricht von einem "unheimlichen Rückstau" der vielen externen Forscher und vor allem Forscherinnen - ein Innovationspotenzial, das oft frustriert der Wissenschaft den Rücken kehrt. Hier hätten die durchlässigeren Systeme in den USA und Skandinavien einen Vorteil. "Dort wird Erfolg belohnt und Faulheit gemaßregelt - Leistungskriterien zählen deutlich mehr", sagt Gingrich. In Österreich würden Leistungswillige hingegen systematisch demotiviert. Zudem fließen in den USA und Skandinavien deutlich mehr Gelder. In den skandinavischen Kulturwissenschaften tue sich bereits vieles, "das muss man neidlos anerkennen", so Gingrich.

In Österreich hingegen würden "die Mittel vor allem auch falsch verteilt", kritisiert Gingrich. Zwar gebe es Andockmöglichkeiten für die "Externen" an verschiedenen außeruniversitären Instituten und der Akademie der Wissenschaften. "Doch generell sind an den Unis zu viele Posten fix vergeben." Man müsse viel stärker mit Basisfinanzierungen arbeiten, fordert der Sozialanthropologe. Und auch die Forscher müssten zum Einkommen der Uni etwas beitragen: "In Holland ist es mittlerweile selbstverständlich, dass die Lehrenden Zusatzgelder erwirtschaften." Da würden eben Vorträge und Abendkurse gehalten.

Schön, aber arm

Was ja auch der intellektuellen Kultur in Wien gut täte. Denn von einer solchen "kann man in Wien nicht wirklich sprechen", sagt Pechriggl. Mit Paris könne man das gar nicht vergleichen, "dort ist in der Öffentlichkeit so viel präsent". Internationale Wissenschafter kämen zwar gerne nach Wien - "eine schöne Stadt ist für Kulturwissenschafter ja sehr attraktiv", so Pechriggl. Doch Gastprofessuren seien schlecht bezahlt und: "Gute junge Leute sind da viel zu leicht wegzulocken." (DER STANDARD, Printausgabe, 15.10.2003)