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Die Klöster am hohen Sevan-See

apa/Hermine Schreiberhuber
Ganz oben steht er jetzt. Wankt ein wenig, rudert mit den Armen, dann klettert er vorbei an den Türmen der Kirche, rutscht das Dach ein Stückchen runter, kraxelt wieder hinauf, diesmal auf die Kuppel. Nun bleibt er stehen, lächelt und breitet die Arme aus. Weit aus. Als wollte er abheben.

Natürlich hätte man Artur Hovhannisjan nicht folgen müssen. Aber diese Aussicht: das armenische Hochland, die Hauptstadt Eriwan, der Berg Ararat drüben in der verhassten Türkei. "Großartig, nicht?", fragt Artur, als man endlich und keuchend neben ihm steht. Großartig. Mehrere Monate im Jahr verbringt er nahe der Kirche Tegher im bergigen Bezirk Aschtar, 50 Kilometer von Eriwan entfernt. Dolmetschen soll er, für eine Doktorandin aus Deutschland, die über die beiden Wehrtürme der Kirche forscht, die nicht in Raum und Zeit passen wollen. Hinter der Kirche steht das Haus des hutzeligen Großmütterchens Satenik mit dem großen Garten und den Pflaumenbäumen.

Mehrmals in der Woche kommt ihr Sohn Ljova Gabrieljan in seiner noblen Wolga-Limousine aus Eriwan, fährt die staubige und steile Serpentinenstraße hinauf, während die Bauern in ihren Pferdekarren stehen bleiben und dem Wagen nachblicken. Ein schwerer und vulgärer Unternehmer, dem die Gegenwart zuwider ist und der sich nach den Zeiten vor Armeniens Unabhängigkeit sehnt. "Früher", sagt Gabrieljan bei einem Glas armenischen Cognacs, "früher war es besser."

Begonnen habe das Übel eben 1991, als Armenien als erste Sowjetrepublik unabhängig wurde. Bis dahin habe es Jobs für alle gegeben, damals konnte noch jeder seine Kinder an die Universität schicken. Dabei ist der selbstständige Geometer, der in Moskau studiert hatte, eigentlich ein Unabhängigkeitsgewinnler. Er fährt einen dicken Wagen, und in Großmutter Sateniks Garten lässt er gerade einen Swimmingpool bauen. Man wird nicht schlau aus ihm.

Artur, der Dolmetscher, hat deutsche Literatur studiert. Aber was nützt ein Studium in einem Land, wo es kaum Arbeit gibt? Wenn die deutsche Doktorandin abreist, ist er wieder einer der vielen jungen arbeitslosen Akademiker des Landes. "Touristenführer, das wär's", sagt Artur. Nur wenige finden Arbeit als Reiseführer - bei nicht einmal 30.000 Touristen im Jahr. Armenien ist in Europas Vorstellung noch kein Reiseziel. Dabei ist es ein guter Zeitpunkt, das Land zu bereisen. Die Regierung ist stabil, Kleinkriminalität spielt zudem kaum eine Rolle.

Eriwan. Treffpunkt Jazz Café, Restaurant, Klub und beliebter Treffpunkt der Besserverdiener und Journalisten, 19 Uhr: Hier sitzt Kaukasus-Experte Vicken Cheterian. Ein Diaspora-Armenier, aufgewachsen im Libanon, heute Leiter des Kaukasus-Medien-Instituts in Eriwan und bemüht, einen unabhängigen Journalismus in einem Land zu etablieren, in dem Korruption noch zu den allgemeinen Geschäftsbedingungen zählt.

"Wir müssen das System ändern", sagt er, "nicht die Menschen." In Armenien, wo der Beamte durchschnittlich 25 Euro im Monat verdient, seien Geldgefälligkeiten ein notwendiger Nebenverdienst. "Aber trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten leben wir in einem auffallend sicheren Land", meint auch Cheterian. Ideal für den aufkeimenden Tourismus.

Gute Hotels bleiben jedoch rar. Selbst das Hotel Armenia, der ganze Stolz der Eri- waner, tut einzig am Eingangsbereich groß. Noch immer wiederholen Taxifahrer den Namen des Hotels leise und ehrfurchtsvoll und wollen einen später unbedingt ins Foyer begleiten. Dabei haben Zimmer und Gänge den zweifelhaften Charme der 70er-Jahre. Einzig der wichtig gekleidete und vielsprachige Concierge wirkt mondän. Aber derzeit wird ein Teil des Hotels umgebaut, und später, heißt es, später wird es nicht mehr wiederzuerkennen sein.

Es gibt natürlich auch modernere und gemütlichere Hotels in der Stadt, aber nirgendwo ist man so zentral untergebracht wie hier am Platz der Republik. Entworfen wurde das architektonische Herz Eriwans vom Architekten Alexander Tamanjan: Das Historische Museum, das Haus der Regierung, das Gewerkschaftshaus und eben das Hotel Armenia begrenzen diesen öffentlichen Raum.

Danach entstand gar die halbe Stadt auf Tamanjans Reißbrett. Sein "Generalbebauungsplan" scheint für die Ewigkeit geschaffen - zumindest was die Bauzeit angeht. Aus den 20er-Jahren stammen die ersten Entwürfe, noch heute wird an der Nord-Süd-Achse gebaut: etwa die monumentale Treppe "Kaskade" im Norden der Stadt. Davor entsteht ein neues Restaurant.

Die Stadt wächst, das Stadtbild ändert sich. Immer mehr Fastfood-Restaurants, schicke Cafés und Boutiquen - die roten Tuffsteinhäuser weichen gläsernen Bürokomplexen. Und während die neue Stadt entsteht, werden gleichzeitig die alten Pläne Tamanjans verwirklicht. Verstehe es, wer will. Die Architekten der Stadt klagen, die Menschen würden für ausländische Investitionen jegliche Achtung vor der eigenen Kultur verlieren. Baugenehmigungen gebe es für jedermann, heißt es, und für Dollar sei noch jedes Gebäude abgerissen worden.

Wer raus aus Eriwan will und die kaputten Straßen des Landes nicht scheut, besucht die Klöster und Kirchen des Landes - oft nur nach langer Fahrt und beschwerlichem Fußmarsch erreichbar. Fährt hinauf auf Berghügel und durch steile Schluchten. Etwa zum Kloster Geghard, rund 50 Kilometer westlich Eriwans, das in eine Felswand geschlagen wurde. "Das alles will ich den Touristen zeigen", sagt Artur. Er würde ihnen Großmütterchen Satenik vorstellen und Ljova Gabrieljan, den Geometer mit seiner Wolga-Limousine. Wahrscheinlich würde er mit den Besuchern auf das Dach der Kirche klettern. Und voller Stolz oben auf der Kuppel die Arme weit ausbreiten. Als wollte er abheben. (Der Standard/rondo/25/10/2003)