Das Erkenntnisinteresse der Marktforscher lässt kaum einen Moment im Leben eines Zeitungslesers unbeachtet. Manches bleibt dennoch unerforscht. Zum Beispiel, wie oft sich an österreichischen Frühstückstischen, in Straßenbahnwagons und U-Bahn-Abteilen das immergleiche Ritual ereignet: Die Befreiung eines lachsrosa Papierkonvoluts von seinen Beilagen, gefolgt von der meist umständlichen Handbewegung, die den Stapel nach einem kurzen Blick auf die erste Seite wie eine zu groß geratene Palatschinke mit der letzten Seite nach oben wendet.

Der Anteil der STANDARD-Leser, die nach einem ersten Überblick über die Titel- auf die Meinungsseite wechseln und deren Lektüre mit dem Betrachten der täglichen Karikatur beginnen, dürfte signifikant hoch ausfallen. Nach den angelsächsischen Vorbildern seiner Gründer trennt und exponiert das Blatt den Raum für Meinungsäußerung auf den letzten Seiten und versteckt sie nicht wie in der deutschsprachigen Presselandschaft sonst üblich im Innern einer Ausgabe auf einer der weniger attraktiven linken Seiten mit gerader Seitenzahl.

Ebenso am angelsächsischen Vorbild orientiert ist die relative Eigenständigkeit im Zugang zu dem, was in der tagesaktuellen Wahrnehmung wesentlich erscheint. Die Arbeiten von Oliver Schopf, Jean Veenenbos und Dieter Zehentmayr sind mehr als die Illustration oder die Fortsetzung des Spitzenmeldung mit anderen Mitteln. Was in den Mühlen der Tagesproduktion aus dem Blick gerät, führt eine Ausstellung im Kremser Karikaturmuseum wieder zusammen. Sie zeigt Werke von außerordentlicher Qualität und Eigenständigkeit. Sie offenbart bei allen dreien einen bemerkenswert langem Atem in der Verfolgung ästhetischer Strategien, den man der Kunst des Tages so ohne weiteres nicht zugetraut hätte.

Das Erfolgsgeheimnis der Karikaturisten liegt offenbar darin, dass sie sich um Branchenstandards wenig scheren. Die analytische Klarheit von Dieter Zehentmayr im thematischen Zugriff, sein exakter Strich, die konsequente Reduktion, das Verharren in der Fläche, steht neben dem barocken Gestaltungswillen von Oliver Schopf, der die mehrheitlich doch trivialen Züge von Personen des öffentlichen Lebens zu regelrechten Marmorgestalten erhebt, um sie dann aus der gerade gewonnen Fallhöhe auf dem Boden einer gegen ideologische Phrasen immunisierten Vernunft zerschellen zu lassen.

Einen tiefen Einblick in die menschliche Tragikomödie liefert das mit zunehmender Reife keineswegs milde gewordene Werk des Jean Veenenbos, dem ältesten unter den drei. Mit der Methode des Zynikers und dem Ethos des Humanisten nähert sich der lange Jahre in Wien ansässige Niederländer den österreichischen Verhältnissen. Von allen dreien vertraut er am wenigsten auf das, was Karikatur traditionell ausmacht: das vorgeblich Selbsterklärende der Physiognomie.

Mit der Annahme, dass Politiker aussehen, wie sie sind und handeln, läuft die psychologisierende Karikatur Gefahr, den subtilen Inszenierungen medial vermittelter Politik auf den Leim zu gehen. Wo Sprache und Bilder zugleich lügen, verwendet Veenenbos eine Strategie des Wortwörtlichen. Seine Blätter legen die öffentlichen Lügen einfach übereinander, die Differenz markiert den Ort, an dem die Wahrheit auszusprechen wäre. (Uwe Mattheiss/DER STANDARD, Printausgabe vom 27.10.2003)