österreichisches Filmmuseum
Ein Besuch im verschlafenen "Dom Pasternak", wo die Wächterinnen Grüntee trinken


Wenn der Schnee nicht knirscht, sondern unter den Füßen schon knackt, ist das in Russland die rechte Zeit, um aufzublühen. Die Gesichter färben sich rot, und der Smog in Moskau ist auf einmal wie weggeblasen. Der Winter in Russland ist eine "zyklisch wiederkehrende Naturkatastrophe, für die man sich in sowjetischen Zeiten jedes Mal rüstete wie für einen kleinen Krieg", schrieb der Schriftsteller Viktor Pelewin. Er ist aber auch die schönste Kulisse für Liebesgeschichten.

Der Höhepunkt in Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago ist nicht ein von Juri und Lara, Arzt und Krankenschwester, gemeinsam verbrachter heißer Sommer, sondern natürlich der tiefste russische Winter. Auf den bekanntlich im Buch kein Happyend folgt: Die Begegnung der beiden anderweitig verheirateten Liebenden in den Revolutionswirren nimmt ein tragisches Ende. Der Roman, vielmehr noch seine romantisierte Verfilmung mit Omar Sharif und Julie Christie, hat 1965 das populäre Russland-Bild im Westen geprägt.

Die Russen wussten davon allerdings nichts: Regisseur David Lean drehte zur Gänze im finnischen sowie spanischen Ausland. Und bis 1988 (!) war Doktor Schiwago in der UdSSR verboten. Sein Autor, der vom Regime verhinderte Nobelpreisträger, hat damals schon zu antisowjetisch gedacht und geschrieben. Nur knapp konnte er die Zeit ab 1935 in der gegründeten Dichterkolonie Peredelkino überdauern. Viele seiner Kollegen wurden vom Geheimdienst verhaftet und entweder des Landes verwiesen oder getötet. Isaak Babel, Ilya Ehrenburg, Lev Kassil oder auch Boris Pasternak steckten in der Natur fest, um auf "literarische" Gedanken zu kommen. Wer für würdig erachtet wurde, durfte im südlichen Umland Moskaus eine Datscha beziehen. Das Idyll wurde für viele mehr und mehr zur Fluchtstätte vor dem Terror des Stalin-Regimes. Aber auch zum Gefängnis. Kurz vor seinem Tod verfasst Pasternak das Gedicht Der Nobelpreis, in dem es heißt: "Bin am End: ein Tier im Netze./ Fern gibt's Menschen, Freiheit, Licht./ Hinter mir der Lärm der Hetze,/ Und nach draußen kann ich nicht."

Auch heute ist es nicht weniger als ein Abenteuer, als Individualtourist nach Peredelkino zu fahren. Das beginnt etwa beim Kiewer Bahnhof, wo man die Ränder Russlands mitten in Moskau entdecken kann: mongolische, kantige Gesichter, Menschen, die auf den Straßen Moskaus aus Angst vor Terroranschlägen von Polizisten auffallend oft kontrolliert werden. Der Kiewer Bahnhof mit seinem angrenzenden Markt ist der große Vielvölkerstaat Russland als Mikrokosmos.

Man steigt in die heruntergekommene Elektrischka, quetscht sich zu dritt auf eine Holzbank, während der Fahrt herrscht Hochbetrieb: Waren aller Art, vom Kugelschreiber zum Gebetbuch, werden lautstark angepriesen. Erst an der schäbigen Bahnstation von Peredelkino ist es still. Keine Spur von Pasternak & Co. Die bildhübschen Damen sehen zwar alle aus wie die Schwestern von Kylie Minogue, doch mit dem Englisch klappt es nicht so gut. Von Pasternak hat man schon gehört, aber wo genau das seit 1990 als Museum zugängliche "Dom Pasternak" steht, darüber ist man sich uneinig. Der Bus fährt zwar, aber wann und wohin? Friedhofsbesucher legen schließlich die Fährte. Ein halbstündiger Fußmarsch quer durch einen wilden goldenen Herbst führt in die Dichtersiedlung (mit Friedhof!). Hier liegt neben der Straße im verwucherten Waldrand Pasternak auch begraben.

Peredelkino ist ähnlich der Moskauer U-Bahn (als unterirdische Palastanlage für das Volk) das Exempel einer kommunistischen Zukunft: kollektives Schreiben für das Volk. Dass in diesem eigentümlich verwachsenen Literaturgarten tatsächlich Literatur entstand, ist wohl mehr dem Umstand der Unfreiheit zuzuschreiben als der Inspiration des Waldes. Ein schmaler Tretpfad führt entlang einer Autostraße und über das Flüsschen Setun geradewegs in einen Wald. Ein alter Lastwagen fährt vorbei. Ein paar Frauen tragen Gemüse. Hunde kläffen hinter hohen Holzzäunen. Besonders gastfreundlich wirkt der versprengte Ort nicht gerade. Mitten im Kiefernwald stehen die Wohnhäuser, Datschas neureicher Russen, wie man erzählt.

Abgelegen in einer dunklen Allee liegt dann auch das braune Holzhaus, in dem Pasternak 25 Jahre lang lebte und wo er den Doktor Schiwago schrieb. Schon bei der Abzweigung von der Trasse Moskau - Minsk fehlt jeder Hinweis auf Peredelkino, und so wundert man sich gar nicht mehr, dass der Weg bis zur Haustür des Dichters von keinem einzigen Wegweiser gekennzeichnet ist. Dass die zeitgenössische russische Literatur mittlerweile mindestens europaweit gefeiert wird und sich längst aller internationalen Marktmechanismen bedient, mag man an diesem verschlafenen Ort gar nicht recht glauben.

Ungeachtet der Tatsache, dass man selbst kein Russisch spricht, erzählen die Hauswächterinnen enthusiastisch aus dem Leben des Nationaldichters. Macht nichts, man betrachtet die Familienfotografien gern zum völlig unverständlichen Kommentar. Solange kein Besucher kommt, sitzen die beiden Damen im Gästezimmer Pasternaks, trinken Tee und blicken durch die Fenster hinaus in den dichten und deshalb etwas zu dunklen Blätterwald, in dem der Dichter einst selbst die Gemüsebeete bestellte. Sie warten wie zwei der drei berühmten Schwestern Tschechows. Wovon sie wohl träumen? Das Haus ist klein, aber geräumig. Im Arbeitszimmer Pasternaks stehen viele fremdsprachige Bände, von Rilke bis Goethe, auch Shakespeare, die er allesamt übersetzte. Ins Auge sticht ein uralter Fernsehapparat mit einer Riesenlupe vor dem handflächengroßen Bildschirm, wohl eines der ersten Modelle überhaupt. Er wirkt wie ein Aquarium ohne Fische. So wie die Jugendlichen in den Betonburgen der Trabantenstädte MTV-süchtig sind, so wird sich am Ende der Moskauer Welt in Peredelkino auch ein TV-Gerät für die Pasternaks ausgezahlt haben. Was tun an langen, zugigen und einsamen Winterabenden? "Der Abend: eine abgebrochene Geschichte,/Fortsetzungslos von einem Stern zurückgelassen -/ Ein Ausdruck bodenlos und fern von allem Lichte,/Von tausend lärmenden Augen nicht zu fassen.". (Der Standard/rondo/31/10/2003/Margarete Affenzeller, Karin Cerny)