"Econophysics" auf dem Vormarsch
Mit dem Scheitern der an der Wall Street favorisierten Prognosemodelle - von makro- und mikroökonomischen Ansätzen bis hin zur technischen Analyse - wächst das Interesse an alternativen Ansätzen. Es verwundert nicht, wenn Studien von Physikern zum Geschehen an den Aktienmärkten und zur Makroökonomie auf immer grösseres Interesse stossen. Prominentester Vertreter dieser neuen Richtung der sogenannten «Econophysics» ist derzeit Didier Sornette, ein französischer Geophysiker und Professor an der University of California in Los Angeles (UCLA). Er glaubt, mit seinem mathematischen Modell den Schlüssel zur Prognose der Kursentwicklung – zumindest am US-Aktienmarkt – er- respektive gefunden zu haben. Der eigentlich auf die Erforschung des Verhaltens komplexer Systeme und das Studium von Erdbeben spezialisierte Sornette sagt voraus, dass es im Frühjahr 2004 einen Börsencrash geben wird. Den Tiefpunkt der Kursentwicklung erwartet er für den Jahresbeginn 2005. Sornette nimmt für sein an die Analyse fraktaler Strukturen angelehntes mathematisches Modell in Anspruch, dass sich damit alle fünf vergangenen Einbrüche des S&P 500 korrekt nachvollziehen lassen.
Schuster, bleib‘ bei deinen Leisten....
Nicht nur Kritiker eines solchen Ansatzes werden allerdings einwenden, dass Physiker, die nun auch noch die Trends an der Börse erklären wollen, in ihrem eigenen Fachgebiet genügend ungelöste Probleme haben. So hat sich die Geophysik - Sornettes Fachgebiet - bei der Vorhersage von Erdbeben bisher als genauso unfähig erwiesen wie die Wirtschafts- und Finanzwissenschaften bei der Prognose von Börsencrashs. Darüber hinaus erscheint eine neuerliche wirtschaftliche Fehlanalyse diesmal auf Grund der jüngsten Daten unwahrscheinlicher: Zunächst ist die Beschleunigung in der amerikanischen Wirtschaft bereits Tatsache. Angetrieben von massiven Käufen der Konsumenten, verzeichnete das Bruttoinlandprodukt (BIP) mit einer hochgerechneten Jahresrate von 7,2 Prozent den grössten Anstieg seit fast zwei Jahrzehnten. In den kommenden Monaten dürfte sich dies auch auf den bisher schwachen Arbeitsmarkt auswirken. Gerade zuletzt kamen auch ermutigende Signale aus Europa – am Dienstag kletterte der Ifo-Geschäftsklima-Index Deutschlands auf den höchsten Wert seit Februar 2001 –, von den ohnehin überdurchschnittlichen Wachstumsraten in Asien, nun sogar inklusive Japan, gar nicht zu schweigen.
Kurs-Rally – nur - bis zum Jahresende?
Allerdings ist die Lage für die Börse nicht uneingeschränkt positiv. Die Nachrichten zum dritten Quartal scheinen zumindest am US-Aktienmarkt längst eingepreist. Worauf es eigentlich ankommt, ist der Ausblick aufs laufende Quartal und auf das Jahr 2004. Damit stellt sich die Frage, ob die Ertragsentwicklung bereits im vergangenen Quartal ihren Höhepunkt erreicht haben könnte. Denn es besteht die Befürchtung, dass zwei Sonderfaktoren, nämlich der Effekt der Steuersenkungen und der Boom am Immobilienmarkt, allmählich ihre Wirkung verlieren. Damit könnten negative Faktoren wie die hartnäckige Schwäche auf dem Arbeitsmarkt ein höheres Gewicht erlangen. Einige Aktienstrategen erwarten allerdings, dass die Hausse noch bis zum Jahresende anhalten könnte. Dies lässt sich mit der typischen Entwicklung im vierten Quartal begründen: Fonds und zahlreiche andere institutionelle Investoren haben ein starkes Interesse an einem Jahresendrally. Folgt man diesem Szenario, würde die Börse erst Anfang 2004 auf das Abflachen des Gewinnwachstums reagieren.
Aber: die Gefahr eines Börsencrash im Frühjahr 2004, so überhaupt, könnte durch eine angesichts der jüngsten Entwicklungen in Russland und Irak durchaus nicht auszuschließende politische Krisenausweitung heraufbeschworen werden – von der wirtschaftlichen Seite wirken die Vorzeichen so positiv wie schon seit längerer Zeit nicht mehr!
Nachlese