Kuular Darjaa, ein kleine Viehzüchter aus der russischen Republik Tuva

Foto: slowfood

In einer "Arche des Geschmacks" sammelt Slow Food weltweit halbvergessene Produkte, Gemüsesorten oder vom Aussterben bedrohte Tierrassen

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Präsident Carlo Petrini: "Wir können es nicht akzeptieren, daß die Erhaltung eines Rindes in Europa zwei Dollar am Tag kostet, während die Menschen in den armen Ländern mit weniger als einem Dollar auskommen müssen.Wir brauchen ein neues Entwicklungsmodell"

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Kuular Darjaa trägt das rote Reitergewand der Nomaden. Stolz blickt er ins Blitzlichtgewitter der Fotografen. Das Meer hat der kleine Viehzüchter aus der russischen Republik Tuva noch nie gesehen. In deren Hauptstadt Kyzyl markiert ein Denkmal jenen Punkt des Planeten, der am weitesten vom Meer entfernt ist. Jetzt kann sich Kuular nicht sattsehen am Golf von Neapel. "Ein unvergeßlicher Tag", gesteht der Nomadensohn, der sich im Grenzgebiet zur Mongolei erfolgreich der Neuzüchtung alter Haustierrassen widmet. "Sie können unseren Temperaturen bis zu +40 Grad im Sommer und -40 Grad im Winter besser widerstehen und ihre Milch ist gesünder", versichert Kuular. Der 72-jährige Tierarzt ist einer von zehn Preisträgern des Slow Food Award for defense of biodiversity.

In bunten Gewändern stehen sie auf der Bühne des geschichtsträchtigen Teatro San Carlo und über 1000 Gäste spenden ihnen Applaus: Hamidou Ouedragao, Gründer einer Bauerngemeinschaft in Burkina Faso, Sebastien Rafaralahy, Agronom aus Madagaskar und Pionier neuer Formen des Reisanbaues, der brasilianische Indianer Kruwakraj, der georgische Agrarexperte Taiul Berishvili und die Indianerin Winina LaDuke. "Wäre ich nicht selbst dabei, ich könnte es nicht glauben, daß sich hier so viele Gleichgesinnte aus aller Welt treffen", versichert der australische Ethnobotaniker Glenn Wightman, der das alte Wissen der Aborigenes über Pflanzen und Tiere in 15 Büchern zusammengefaßt hat. Für den Mexikaner José Iturriaga de la Fuente ist der Preis Lohn für Jahrzehnte beharrlicher Arbeit: er hat den kulinarischen Traditionen der 62 indigenen Völker Mexicos 54 Bücher gewidmet. Auch der äthiopische Pflanzengenetiker Regassa Feyissa zählt zu den Galionsfiguren der weltweiten Offensive, mit der Slow Food eine neue Ernährungskultur lanciert. Sie orientiert sich an der "Erhaltung der Lebensmittelvielfalt, der gastronomischen Traditionen, der nachhaltigen Landwirtschaft und der kulturellen Identität der Völker." In einer "Arche des Geschmacks" sammelt Slow Food weltweit halbvergessene Produkte, Gemüsesorten oder vom Aussterben bedrohte Tierrassen - von den gelben Bohnen aus Santorini bis zum indischen Senföl. Auf der Piazza del Plebiscito in Neapel wurden drei Tage lang 120 solcher vom Vergessen bedrohten italienischen Nahrungsmittel präsentiert- vom sardischen Pecorino di Osilo bis zum Vino Santo del Trentino. Solche "Archen" sollen in jedem Land entstehen. Dem Grazer Gastro-Autor Manfred Flieser, der Österreich in Zukunft im internationalen Slow-Food-Vorstand vertritt, fällt dazu spontan einiges ein: vom Sulmtaler Huhn über das Kärntner Brillenschaf bis zu dem früher auch in Slowenien verbreiteten Küberlfleisch.

Abendessen in Pompeij

Den Teilnehmern am 4. Weltkongreß in der alten Normannenfestung Castel Sant'Elmo mit ihrem grandiosen Rundblick über ganz Neapel bot Slow Food auch gastronomisch unvergeßliche Eindrücke: etwa die Abendessen bei Kerzenlicht in Pompeij oder im Museum von Capodimonte, unter den Arkaden der Piazza del Plebiscito oder im malerischen Positano. Doch wer Slow Food das Etikett eines "elitären Vereins von Weinverkostern" anheften möchte, wird vom charismatischen Präsidenten Carlo Petrini eines Besseren belehrt: "Wir können es nicht akzeptieren, daß die Erhaltung eines Rindes in Europa zwei Dollar am Tag kostet, während die Menschen in den armen Ländern mit weniger als einem Dollar auskommen müssen.Wir brauchen ein neues Entwicklungsmodell" . Folgerichtig lancierte Petrini in Neapel seine bisher kühnste Initiative. Zum Salone del Gusto will Slow Food im kommenden Jahr 5000 Bauern, Fischer und Kleinproduzenten aus aller Welt nach Turin bringen. "Ein Netzwerk gegen die Ausplünderung des Planeten, für eine neue Ernährungskultur und die Rückkehr zu lokalen Produkten". Die Slow-Food-Stiftung für die biologische Vielfalt unterstützt bereits Projekte in 30 Ländern. Ein Schwerpunkt war in Neapel die Lebensmittel- und Geschmackserziehung. Schulgärten sollen den Kindern den natürlichen Anbau nahebringen - nach dem Vorbild des erfolgreich school garden-Projekts von Slow Food USA. Im kommenden Jahr eröffnet in Italien auf Initiative von Slow Food die weltweit erste Universität für Gastronomische Wissenschaften ihre Tore. Sie steht Studenten aus aller Welt offen.

Kulinarische Kulturgüter

Zwei Kaffehäuser und eine Kellerei sind die ersten Träger der neuen Auszeichnung "Kulinarisches Kulturerbe": die Kaffees A la morte subite in Brüssel und Bicerín in Turin und die süditalienische Kellerei Feudi di San Gregorio für die 200 Jahre alte Rebanlage vigna della sirica. Mit den neuen Orden für persönliche Verdienste würdigte Slow Food in Neapel den burgundischen Koch Jean Ducloux, den Käseproduzenten Ignazio Vella aus dem kalifornischen Sodoma, das ligurische Weinbauernpaar Pippo Parodi und Bice Comparato und die Moskauer Ärztin Galina Poskrebycheva für ihre Sammlung von 10.000 traditionellen russischen Rezepten. Mit Maria Pagliasso schließlich wurde ein Stück eigener Geschichte ausgezeichnet: die heute 82-jährige war lange Köchin im Boccondivino im piemontesischen Bra, wo die Bewegung mit der Schnecke als Markenzeichen 1984 aus der Taufe gehoben wurde. Die Tagliatelle für das Slow Food-Lokal bereitet Maria noch heute selbt zu: "Mit 40 Eiern pro Kilo Mehl", wie sie versichert. Carlo Petrini, als Präsident einstimmig wiedergewählt und von den 650 Delegierten aus fast 40 Ländern mit standing ovations gefeiert, wischte sich zum Abschluß kurz die Tränen aus den Augen. Dann kündigte er an, der nächste Weltkongreß werde in einem Entwicklungsland stattfinden. "Als sichtbares Zeichen unserer Solidarität mit dem Süden der Welt." Zweiflern begegnete Petrini mit einem Zitat von Seneca :"Unsere Ängste sind sterblich, aber unsere Träume leben ewig."