Das Leben im Spannungsfeld zwischen Antisemitismus der Umwelt und eigenem Optimismus habe die Wiener Juden entscheidend beeinflusst, meinte der Historiker. Im Umfeld der "anti-intellektuellen Kultur der Habsburger" hätten Juden einen "kritischen Modernismus" entwickelt und an die Machbarkeit äußerer Reformen und an die innere psychische Reformfähigkeit, etwa in der Psychoanalyse, geglaubt. Jüdische Denker, Künstler und Wissenschafter hätten allgemein einen liberaleren und offeneren Zugang gewählt, weil sie von den Ideen der Aufklärung und nicht vom katholischen Konservativismus geprägt waren.
Als "Nicht-Christen" ausgegrenzt
Mit dem Aufkommen des Nationalismus in der Monarchie hätten die Juden vielen nicht mehr ethnisch "gepasst", erklärte Beller in einem Exkurs zum Antisemitismus. Die in Wien besonders starken Christlich-Sozialen seien zwar keine Nationalisten gewesen, hätten sich aber selber durchaus als ethnische Gruppe der "Christen" gesehen - sonst hätten sie sich ja Katholiken nennen können, meinte er. Juden galten als "anders" und waren als "Nicht-Christen" ausgegrenzt: "Schnitzlers Wien hat bereits Zeichen von Hitlers Wien gezeigt".
Warum es aber gerade im Wien der Jahrhundertwende und in der Zwischenkriegszeit zu derart starken Phänomenen des politischen Antisemitismus kam, während die Juden etwa im nahen Budapest vergleichsweise viel weniger angefeindet wurden, das konnte auch Beller nicht schlüssig beantworten. Die Ansicht, der Antisemitismus habe sich gegen jüdische Zuwanderer aus ärmeren Teilen der zerfallenden Monarchie gerichtet und sei eine Form von Xenophobie gewesen teilt er nicht. Von überall her seien Menschen nach Wien gekommen, Ungarn, Galizier, Rumänen, Russen und besonders viele Tschechen. "Warum gab es dann keinen Anti-Tschechismus?" fragte er.
"Opferthese" fabriziert
Die Flucht vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung habe das "Menschheitsferment", die Juden von Wien, in alle Welt zerstreut. Die "Opferthese" nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Österreich das erste Opfer Nazi-Deutschlands gewesen sei, sieht der Historiker als "Fabrikation, die vielen vielleicht notwendig erschien um eine neue Wirklichkeit zu konstruieren, aber die Wahrheit ist es nicht". Antisemitismus habe in Österreich auch nach dem Holocaust weiter existiert, sogar in Äußerungen von Regierungsmitgliedern erkennbar, erinnerte er an die Widerstände gegen Restitutionsleistungen und die Tendenz, "die Sache in die Länge zu ziehen". Krisen wie etwa die Waldheim-Affäre und jüngst Auseinandersetzungen um Jörg Haider hätten aber immer auch positive Seiten gehabt. Heute sei Österreich als EU-Mitglied wieder Teil einer supranationalen Gemeinschaft, so wie Wien zur Jahrhundertwende.