Die jüngsten Bombenanschläge in Istanbul unterstreichen noch einmal, wie wichtig es für die Türkei ist, Huntingtons Verwerfungsgrenze zu überwinden, um gestärkt als wohlhabende, säkulare und stabile Demokratie hervorzugehen. Wenn dies der Türkei gelingt, wird sich zeigen, dass es nicht zwangsläufig zu einem "Kampf der Kulturen" kommen muss, in dem die Trennung des Kalten Krieges durch neue, religiöse Auseinandersetzungen wie im Mittelalter ersetzt wird.
Ob die Türkei als moderne Demokratie vorankommt, wird natürlich von vielen Faktoren innerhalb der Türkei abhängen, die mit der eigenen Führung und den Entscheidungen der politisch und wirtschaftlich Handelnden des Landes zu tun haben. Doch die Terroristen, die derart tödlich zugeschlagen haben, verstehen nur zu gut, dass die Bedeutung des Kampfes um die türkische Seele nicht nur eine regionale, sondern auch eine globale Dimension hat. Und letzten Endes werden Faktoren außerhalb der Türkei über den weiteren Weg des Landes entscheiden.
Der wichtigste Aspekt in diesem Zusammenhang ist ohne Frage die anstehende Entscheidung der Europäischen Union, ob sie mit den Verhandlungen über die volle EU-Mitgliedschaft der Türkei beginnen soll oder nicht: Auf dem für Dezember 2004 unter dem Vorsitz der Niederlande anberaumten Gipfel hat die EU die Fortschritte der Türkei zu prüfen und zu entscheiden, ob die Verhandlungen "unverzüglich" aufgenommen werden.
"Kampf der Kulturen" nicht unabwendbar
Ich meine: Die Türkei braucht den "Anker" der europäischen Integration in wirtschaftlicher, politischer und institutioneller Hinsicht. Europa und die Türkei zusammen müssen sich und der Welt beweisen, dass Huntingtons "Kampf der Kulturen" nicht unabwendbar ist; dass Christen, Juden, Muslime und andere Gläubige und Nichtgläubige das "europäische Projekt" gemeinsam aufbauen können, dass eine mehrheitlich muslimische Gesellschaft demokratisch und säkular sein kann und dass Türken und Griechen das zustande bringen können, was Frankreich und Deutschland gelang, nämlich eine jahrhundertealte Feindschaft zu überwinden und eine "gute Nachbarschaft" zu entwickeln.
Man darf nicht zulassen, dass sich die "Grenzen" zwischen Ost und West, die Atatürk in der Türkei weit gehend eingerissen hatte, in den Köpfen einer neuen Generation wieder bilden. Dabei hat die Situation, mit der die EU konfrontiert ist, durchaus Ähnlichkeiten mit jener in Osteuropa nach dem Sturz des Kommunismus, als diese Region ebenfalls einen "Anker" nötig hatte.
Die EU bot diesen Anker damals nahezu ohne Zögern an, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Länder mit einer Kommandowirtschaft und geringer Erfahrung in Demokratie stehen nach einem Jahrzehnt rapider Veränderung im Begriff, zu Vollmitgliedern der Union zu werden. Europa hat sich hier von Anfang an entschlossen und großzügig gezeigt, und das zahlte sich aus.
Im Jahr 1990 allerdings besaß die Türkei bereits eine viel fortschrittlichere Marktwirtschaft und wesentlich größere Erfahrung mit Demokratie als die designierten EU-Beitrittsländer Osteuropas. Und trotzdem hat sich Europa sehr lange gesträubt, dem Land die gleiche Art von Hoffnung zu bieten - und damit dem demokratischen Fortschritt in der Türkei sehr geschadet.
Natürlich stellt die Integration eines so großflächigen Landes an der Grenze zum Nahen Osten Europa vor eine gewaltige Herausforderung. Ein Erfolg würde sich allerdings enorm bezahlt machen - nicht nur für die Türkei, sondern auch für Europa und die ganze Welt.