Kernstück des finnischen Bildungssystems, das mit hervorragenden Schülerleistungen beim internationalen Schulvergleich im Rahmen des Pisa-Tests von sich reden machte, ist wie in den übrigen nordeuropäischen Ländern die Gesamtschule für alle Kinder bis zur neunten Klasse. Die Gesamtschule beginnt - nach einem freiwilligen Vorschuljahr, an dem der Großteil der Sechsjährigen teilnimmt - erst im Alter von sieben Jahren.

Die einheitliche Gesamtschule war in Finnland schon 1968 gesetzlich eingeführt worden. Reformen im Laufe der Achtziger- und Neunzigerjahre zielten auf Dezentralisierung des Schulsystems. Mittlerweile werden vom Zentralamt für Unterrichtswesen lediglich die übergreifenden Lernziele sowie die minimale Zahl der jeweiligen Fächerstunden festgelegt. Den Gemeinden und einzelnen Schulen verbleibt erheblicher Spielraum, um den Unterricht nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Auch die in den Schulen üblichen Ganztagsangebote werden nicht zentral geregelt. Für die Organisation des Gesamtschulunterrichts sind die Gemeinden verantwortlich. Das Gesetz schreibt außerdem vor, dass der Unterricht in Wohnnähe zu erfolgen hat. Bei einer Schulweglänge von mehr als fünf Kilometern muss die zuständige Schulbehörde für die Organisation von Transporten und die Übernahme entsprechender Kosten sorgen. Der Gesamtschulunterricht sowie sämtliche Unterrichtsmaterialien sind gratis; allen Schülern wird zudem ein kostenloses warmes Mittagessen angeboten. Zu den Selbstverständlichkeiten im Lande des Handyriesen Nokia gehört auch die frühe Heranführung an die Arbeit mit Computern. So sind in der Hauptstadt Helsinki sämtliche Schulen vernetzt, und jedem Schüler wird ein Computer zur Verfügung gestellt.

Keine Noten bis zur 5. Klasse

In den ersten vier Jahren werden in der Gesamtschule keine Noten vergeben. Erst ab Klasse fünf dürfen Noten erteilt werden, die Entscheidung darüber obliegt der Schule. Zentrale Prüfungen finden nicht statt, Sitzenbleiben ist ein Fremdwort. Bis zum Ende der sechsten Klasse wird der Unterricht fast nur vom Klassenlehrer durchgeführt, der jeweils eine eigene Ausbildung durchlaufen hat. Ab der siebten Klasse gilt das Fachlehrerprinzip. Traditionell kommt in Finnland, dessen Einwohner weltweit zu den fleißigsten Buch-und Zeitungslesern gehören, der Sprachausbildung große Bedeutung zu. In der Gesamtschule muss jeder Schüler mindestens zwei Fremdsprachen erlernen, zumeist sind dies Englisch und - je nach Muttersprache - Schwedisch oder Finnisch. Der Unterricht in der ersten Fremdsprache beginnt im dritten, jener in der zweiten im siebten Schuljahr. Außerdem kann eine weitere Fremdsprache als Wahlfach hinzugenommen werden.

Lehrerberuf hat hohen Sozialstatus

Schüler, Lehrer und Eltern loben am finnischen Schulsystem eine Atmosphäre, die der vielfach spielerischen, streitbaren Wissensvermittlung Vorrang vor dem in Skandinavien allgemein verpönten "Blendwerk" - in diesem Fall kurzzeitig erworbenem und reproduziertem Wissen - gibt. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang der hohe Status des Lehrerberufs in Finnland. So müssen die Pädagogen eine anspruchsvolle, mindestens sechs Jahre dauernde Universitätsausbildung durchlaufen, und von den jährlich rund 6000 Bewerbern für die Ausbildung zum Klassenlehrer für die Stufen eins bis sechs wird nur jeder Zehnte angenommen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.12.2003)