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Lars Norén inszeniert sein neuestes Drama "Krieg. Schattenbiografien" selbst - in Patrice Chéreaus Théâtre des Amandiers in Nanterre. Dort sprach er mit Olga Grimm-Weissert .

Paris - Das jüngste Stück des schwedischen Dramatikers Lars Norén spürt, angelehnt an die griechische Tragödie, den Verwüstungen des Krieges innerhalb einer einzelnen Familie nach: Die Personen sind nach Beendigung des Krieges nur noch Schatten ihrer selbst. Die Mutter und die beiden Töchter wurden vergewaltigt, während der Vater in den Krieg "abgehauen" ist. Das Haus ist eine Ruine, das Dorf fast menschenleer.

Die ältere Tochter geht auf den Strich, um den anderen das Überleben zu ermöglichen. Die Mutter nahm den Bruder des Vaters als Liebhaber. Der Vater kommt zurück - blind im wahren und übertragenen Sinn.

STANDARD: Die familiäre Konstellation Ihres Stückes erinnert an die "Atriden", die auf das Niveau des kriegsgeschädigten Volkes heruntergekommen wären. Es fehlt nur Orest, dem Sie vor zwanzig Jahren ein Hörspiel gewidmet haben ("Orest Depressionen"). Hatten Sie beim Schreiben an die mythologische Vorlage gedacht?

Norén: Nein, überhaupt nicht. Ich denke gar nicht mehr an die griechischen Dramen. Es war mir wichtig, mit Krieg ein zeitloses Stück zu schreiben, das für alle Kriege signifikant und gültig ist - egal, ob sie in Bosnien, Kroatien oder sonst wo stattgefunden haben.

STANDARD: Die Personen werden mit den Buchstaben A, B, C, D, E bezeichnet. Sie geben diesen schematischen Schatten keinen persönlichen Charakter, nur ein - durch die Kriegsfolgen bedingtes - Verhalten. Alle Figuren sind jedoch ohne Manichäismus gezeichnet: Alle fünf haben schlechte und gute Seiten.

Norén: Ich will nur ihr Verhalten darstellen. Wie sie im Augenblick des Geschehens agieren. Sie haben den Krieg gemacht, denn er bricht aus jedem Einzelnen von ihnen heraus. Wir sehen, wie der Mann seine Frau behandelt, wie selbstverständlich Gewalt und Vergewaltigung für ihn sind. Wir wissen nicht, ob er auch im Krieg vergewaltigt oder getötet hat. Die Gewehre existieren in unseren Inneren.

STANDARD: Sie zeigen ein "Bild" oder einen "Spiegel"?

Norén: Ein Bild.

STANDARD: Was ist für Sie der Unterschied zwischen einem Bild und einem Spiegel auf der Bühne?

Norén: Der Spiegel lässt die Möglichkeit offen, hineinzusehen. Und man möchte nicht hineinsehen. Man möchte die Eigenverantwortung negieren. Wir haben aber immer die Wahl, über unser Leben zu bestimmen. Diese Wahl ist eine Last, aber Sie können wählen. Es ist hart, aber möglich. Die Leute, die die richtige Wahl trafen, sind die glücklichsten. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die wirklich keine Wahl haben.

Der Vater (D) wollte vielleicht den Krieg und die da- mit verbundene Grausamkeit. Denn wir benützen den Krieg, um uns von den Zwängen der Gesellschaft und der Zivilisation zu befreien. Krieg ermöglicht orgiastische Freiheit. Wir profitieren vom Krieg - töten den Nachbar, eignen uns sein Hab und Gut an. Das daraus resultierende schlechte Gewissen führt zu noch mehr Gewalt und Mord. Auch die Mutter (A) profitierte vom Krieg, der sie von ihrem Mann befreite und die Liaison mit dem Schwager ermöglichte.

STANDARD: Ist es für Sie einfacher, Ihre eigenen Stücke, wie "Krieg", zu inszenieren, oder wie voriges Jahr Tschechows "Möwe"?

Norén: Tschechow ist einfacher, denn ich kann den Text nicht ändern, und ich habe mehr Distanz. Den Text von Krieg habe ich während der Proben dauernd umgeschrieben, die Urfassung fast zerstört.

STANDARD: Gibt es einen Unterschied bei der Personenführung?

Norén: Nein, es ist die gleiche Arbeit. Nur dass ich ja hier auf Französisch, mit Schauspielern arbeite, die ich - mit Ausnahme der zwei Männer, die ich im vorigen Jahr in der Inszenierung von Jean-Louis Martinelli, Personenkreis 3:1, hier im Théâtre des Amandiers in Nanterre gesehen habe - nicht kannte. Die Sprache ist keine Barriere, weil ich mich auf die Sprechmelodie konzentriere.

STANDARD: Wie kommen Sie mit Inszenierungen Ihrer Stücke durch andere Regisseure zurecht?

Norén: Im Allgemeinen gut. Aber oft sind sie mir zu laut. Meine Stücke sind eigentlich leiser.

STANDARD: Ja, man klassifiziert Sie als Autor von Kammerspielen.

Norén: Ich sammle Streichquartette und komme aus einer vierköpfigen Familie. Also eine Streichquartett-Familie oder ein Kammerorchester (ironisches Lächeln).

STANDARD: Was halten Sie von der Sozialreform, die es ab Jänner 2004 den französischen Schauspielern, Tänzern und Bühnenarbeitern erschwert, ihren Beruf weiter auszuüben, da es keine Jahresverträge gibt und viele Künstler nur mithilfe der Arbeitslosenunterstützung überleben können?

Norén: In Schweden ist die künstlerische Arbeit der freien Gruppen seit dreißig Jahren die interessanteste. Es ist sehr gefährlich für ein Land, den freien Gruppen keinen Raum zum Experimentieren, zu einem anderen als dem üblichen Diskurs zu lassen. Niemand spielt Theater, um reich zu werden. Deswegen ist diese Reform eine Bedrohung für das Theater, das noch kommerzieller werden wird, als es bereits ist.

Das Theater ist ein Mittel, um zu beschreiben, wo wir stehen und warum wir leben. Das heißt, was man dem Theater entzieht, entzieht man dem Leben. Theater ist ein Freiraum zum Durchatmen. Beschneidet man kreative Räume, wird die Gesellschaft zum Gefängnis. Und im Gefängnis reagieren wir wie Ratten.(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3. 12. 2003)