Der am Wochenende von Deutschland, Frankreich und Großbritannien präsentierte Vorschlag einer generellen Beistandspflicht hat heftige Kontroversen in Politik und Medien ausgelöst, weil viele Beobachter darin schon den ersten Schritt zur Etablierung einer "echten" europäischen Verteidigungspolitik erblickten. Irreführenderweise wurde in der Regel nur der ersteAbsatz des betreffenden Papiers zitiert, der die Verpflichtung enthält, einem angegriffenen Mitgliedstaat mit allen zu Gebote stehenden Mitteln Hilfe zu leisten. Schon im zweiten Paragrafen wird jedoch ausdrücklich auf die Nato Bezug genommenen, indem man festhält, dass die Maßnahmen entsprechend der im Rahmen der Nato eingegangenen Verpflichtungen zu erfolgen haben und das atlantische Verteidigungsbündnis für dessen Mitglieder auch weiterhin Grundlage ihrer kollektiven Sicherheitspolitik bleibt.

Vom Nukleus einer europäischen, von der Nato unabhängigen Verteidigung kann also schwerlich die Rede sein. Zumal auch größte Zweifel angebracht sind, ob dieser Vorschlag von den übrigen Mitgliedstaaten, vor allem den Neutralen, angenommen wird, und der Verdacht nahe liegt, dass es sich bei der Drei- Länder-Initiative nur um einen der vielen im Brüsseler Verhandlungspoker üblichen Versuchsballons handelt.

Zwischen Wunsch . . .

Schließlich ist die Beistandspflicht strenger als in den Nato-Verträgen formuliert und würde daher auch kaum ihre Deckung im Art. 23 f der Bundesverfassung finden, der sich auf Petersbergeinsätze im Rahmen des Krisenmanagements bezieht, nicht aber auf die Territorialverteidigung eines Mitgliedstaates. Eine Übernahme dieser Verpflichtung würde somit das Ende der österreichischen Neutralität bedeuten und bedürfte einer Verfassungsänderung bzw. einer Volksabstimmung.

Nun führen jene, die für die Abschaffung der Neutralität sind, Argumente ins Treffen, mit denen man sich zweifellos ernsthaft auseinander setzen sollte, wie etwa:

Als Mitglied der EU habe Österreich die Herausforderungen der Gegenwart zu akzeptieren, welche ein wirklich geeintes und auch militärisch handlungsfähiges Europa verlangen, in welchem kein Platz für neutrale Sonderlinge sei. Durch den Wegfall der Sowjetunion habe die Neutralität ihre Funktion verloren. Zwischen welchen Mächten soll Österreich noch neutral sein? Wo sind die Gegner, zwischen denen ein neutrales Österreich eine Vermittlerrolle übernehmen könnte? Wer in dieser Situation noch auf der Neutralität bestehe, verweigere sich der Realität oder, schlimmer noch, er wäre ein Trittbrettfahrer, dem es an Solidarität mangle etc. etc.

Die Liste der Argumente ist lang, der Haken ist nur, dass sie auf Wunschvorstellungen beruhen: Die Vision eines europäischen Bundesstaates, die vielleicht einmal Wirklichkeit werden kann, wird schon jetzt als diplomatische Arbeitshypothese für eine realpolitische Situation verwendet, die – sowohl in Brüssel als auch in Österreich – vom erhofften Sollzustand noch weit entfernt ist.

Wenn es aber zutrifft, dass die Verwirklichung einer gemeinsamen europäischen militärischen Identität oder eines alle Mitgliedstaaten umfassenden Verteidigungsbündnisses wenn überhaupt, dann nur in ferner Zukunft erreicht werden kann, dann erscheint es geradezu absurd, dass sich das neutrale Österreich schon jetzt für diese Ziele einsetzen soll – wie dies interessanter Weise nicht nur von Mitgliedern der Bundesregierung sondern auch von namhaften Vertretern der Oppositionsparteien wie Peter Pilz oder Caspar Einem gefordert wird.

. . . und Wirklichkeit

Viel nahe liegender wäre doch stattdessen, die Nutzung der Möglichkeiten, die sich aus der Neutralität ergeben, zu optimieren: Eine EU, die auch neutrale Mitglieder besitzt, ist ja in Wirklichkeit viel stärker und handlungsfähiger, weil sie über ein reicheres diplomatisches Instrumentarium verfügt, das in Krisensituationen erfolgreich eingesetzt werden kann.

Neutrale EU-Staaten können z.B. bei Einsätzen der Vereinten Nationen viele Aufgaben besser erfüllen als Angehörige von Militärblöcken, weil man ihnen bei Streitvermittlungen mehr Vertrauen entgegenbringt als größeren Mächten, die stets dem Verdacht ausgesetzt sind, egozentrische Ziele zu verfolgen. Auch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus könnten Neutrale eine wichtige Rolle als Anwalt des Völkerrechts und der Menschenrechte spielen.

Bei unzähligen humanitären und friedenserhaltenden Aktionen war das Engagement von Neutralen schon von entscheidender Bedeutung. Warum sollte das in Zukunft nicht auch der Fall sein? Warum sollte es unmöglich sein, unsere Partner in der EU von der Nützlichkeit einer klugen und im Rahmen der GASP abgestimmten Neutralitätspolitik einzelner Mitgliedstaaten auf internationaler Ebene zu überzeugen?

Die Beibehaltung der Neutralität würde keineswegs gegen das Solidaritätsprinzip der Gemeinschaft verstoßen, sondern wäre ganz im Gegenteil ein kongenialer Beitrag zur Umsetzung der humanitären und friedensfördernden Zielsetzungen der EU. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.12.2003)

*Botschafter a. D., zuletzt Leiter einer OSZE-Delegation in Tschetschenien, lebt in Wien. Der Beitrag basiert auf dem Eröffnungsreferat des Autors für das Symposion "Europäische Verfassung, Sicherheit und Neutralität" (5.–6. 12. im Parlament).