PRO: "Mehr Chancengleichheit"

Von Martina Salomon

Sind britische und französische Schüler unglücklicher als österreichische? Wohl kaum. Dort ist die Ganztagsschule die Regel, in Österreich und Deutschland hingegen dominiert - noch - die Halbtagsschule. Das zementiert soziale Ungleichheiten. Denn am Nachmittag müssen Väter, Mütter und teure Nachhilfelehrer die Wissenslücken der Schüler bearbeiten. Kinder, deren Eltern dafür Zeit, Bildung oder Geld fehlt, haben ein hohes Risiko, über den Pflichtschulabschluss nicht hinauszukommen.

Immerhin hat Wien (im Gegensatz zu vielen ländlichen Regionen) in zahlreichen Schulen eine Nachmittagsbetreuung eingerichtet. Weil dafür aber häufig weder das Gebäude geeignet noch der Nachmittag verpflichtend ist, bricht dieses Angebot spätestens in der siebten Schulstufe zusammen. Wenn nämlich die Freundin/der Freund mit einem Packerl Chips als Mittagessensersatz allein daheim vor dem Computer lungern darf, finden das die Mitschüler so unheimlich cool, dass sie ihren Eltern die Genehmigung dafür ebenfalls bald rauspressen.

Nicht zuletzt findet in der Halbtagsschule ein bis zu sechsstündiger Vormittagsblock statt - und jeder Lehrer weiß, wie schlecht es um die Konzentration der Klasse in den letzten Stunden bestellt ist. Ließe sich diese Zeit mit Übungseinheiten, Förderstunden und (viel!) Bewegung verschränken, wäre der Lerneffekt besser. Vernünftigerweise sollte es daher verpflichtende Ganztagsschulen geben. Für jene Eltern, deren liebstes Freizeitvergnügen es ist, mit ihren Kindern über der Hausübung zu sitzen, können ja Standorte für die Halbtagsschule bestehen bleiben. Als Auslaufmodell.

* * *

CONTRA: "Eingesperrt in der Schule"

Von Conrad Seidl

Zu den am weitesten verbreiteten Irrtümern über Schulen gehört die Annahme, sie seien dazu da, Kinder zu "betreuen". Schulen (und Kindergärten) seien demnach einfach Anstalten, wo Eltern die Kinder morgens abgeben und sie abends wieder abholen. Womöglich mit dem angenehmen, aber offenbar zweitrangigen Effekt, dass die Kinder abends dann ein bisserl gescheiter sind.

Vor ein paar Jahren noch war das ganz anders: Da wurde die Ganztagsschule mit dem Argument angepriesen, dass gemeinsames Lernen und gemeinsame Freizeit von früh bis spät zu einem sozialen Ausgleich führten. Dahinter stand die aus dem Ostblock importierte Vorstellung, man könne so einen besseren Menschen in einer besseren Gesellschaft schaffen.

Tatsächlich aber sind Kinder sehr individuelle Persönlichkeiten mit entsprechend unterschiedlichen Begabungen und unterschiedlichen Interessen. Sperrt man sie den ganzen Tag in der Schule ein, so müssen sie verkümmern - selbst eine personell und finanziell gut ausgestattete Ganztagsschule kann den Kindern nur pädagogischen Einheitsbrei bieten: Ist ein Kind in Sprachen begabt, kann es allenfalls zusätzlich Spanisch lernen, weil die Schule einen Spanischlehrer hat und das als Freigegenstand anbieten kann - für Japanisch, Russisch oder Tschechisch wird es kaum an jeder Schule genügend Lehrer und genügend große Gruppen geben; also wird es nicht angeboten werden können. Ähnlich sieht es mit künstlerischen und sportlichen Angeboten aus: Da bleiben Singen und Fußball als Minimalkonsens.

Anspruchsvolles ist nur in der Freizeit zu haben. Und die muss man den Kindern gewähren - dazu sind Nachmittage da. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.12.2003)