Das Wiener Mädchen, das von seinen Eltern wochenlang gequält worden sein soll, ist aus dem künstlichen Tiefschlaf erwacht und nach Auskunft der Ärzte in gutem Zustand. Die Nachbarn haben sich in der Vergangenheit zwar über Lärm aus der Wohnung beschwert, an Kindesmisshandlung hat aber niemand gedacht.

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Wien - Weihnachtsgestecke hängen an einigen der Wohnungstüren, Fußmatten mit der Aufforderung einzutreten liegen auf dem schwarz-weiß gesprenkelten Steinfußboden. Die Umsetzung der Forderung ist schwieriger: Ein Teil der Bewohner der Stiege neun des Pollak-Hofes in Wien-Floridsdorf ist an diesem Freitagvormittag nicht zu Hause, andere wollen nicht mit einem Journalisten sprechen. Nicht über die Torturen der zehnjährigen Jacqueline, die sich im Gemeindebau abgespielt haben.

Drei Wochen lang soll das Mädchen von seiner 26-jährigen Stiefmutter und dem gleichaltrigen leiblichen Vater misshandelt worden sein. Am Samstag brachte es der Vater schließlich mit einer stark blutenden Schnittwunde ins Spital. Dort entdeckten die Ärzte die Spuren der Quälereien: Knochenbrüche, Schnittverletzungen, großflächige Verbrennungen.

Ein junges Paar öffnet schließlich doch die Tür. Sie erzählen über ihre Wahrnehmungen. Das dreistöckige Gebäude liegt zwar direkt neben der Auffahrt zur A22, der Verkehrslärm ist aber nur entfernt zu hören. Dafür haben andere Geräusche die Nachbarn der mutmaßlichen Täter zur Weißglut getrieben.

Lärmbeschwerden

"Seit April haben wir uns immer wieder über den Lärm beschwert, den die gemacht haben", klagt das Paar. "An Misshandlungen haben wir aber nie gedacht. Es war halt einfach laut, die Kinder sind herumgetrampelt und haben geschrien, aber solche Grausamkeiten hält man ja nicht für möglich."

Zunächst habe man noch versucht, die Familie um mehr Rücksicht zu bitten, da das nicht fruchtete, wurden Unterschriften gesammelt und Briefe an die Gemeinde geschrieben. Im Büro des Wohnbaustadtrates Werner Faymann bestätigt Pressesprecher Gerd Millmann, dass es die Briefe gegeben habe. "Der Betroffene ist im Sommer auch verwarnt worden. Von Kindesmisshandlung war aber nie die Rede, daher wurde der Fall auch nicht an das Jugendamt gemeldet."

Wahrnehmungen jetzt anders interpretiert

Auch die Polizei wusste nichts davon, meint Ewald Ebner vom Kriminalkommissariat Nord. "Die Nachbarn haben bei unseren Befragungen auch nichts von schreienden oder wimmernden Kinderstimmen gesagt", behauptet er. "Es kann natürlich sein, dass nach den Medienberichten Wahrnehmungen jetzt anders interpretiert werden."

Die Ermittlungen der Polizei sind unterdessen abgeschlossen, vor der Untersuchungsrichterin ist das Ehepaar bei seiner Aussage geblieben. Das dreiwöchige Martyrium ihrer Tochter seien "Erziehungs- und Züchtigungsmaßnahmen" gewesen, einen konkreten Anlass für den Ausbruch der Gewaltorgie konnten die beiden laut Ebner nicht geben.

Warten auf Aussage

Das Opfer selbst war Freitagvormittag aus dem künstlichen Tiefschlaf erwacht und wird auf der Intensivstation des SMZ-Ost abgeschirmt. Laut Auskunft der Ärzte ist die Zehnjährige in gutem Zustand, sie wird jedoch noch einige Tage auf der Intensivstation verbringen müssen. Vernommen wurde das Kind noch nicht. "Wir haben aber jetzt Zeit, bis wir gemeinsam mit einem Psychologen versuchen herauszufinden, was sie erzählen kann und will", erläutert der Beamte. Der wie seine Kollegen noch immer erschüttert ist.

"Besonders die Vernehmungsbeamten standen unter enormen Druck. Sie mussten gegenüber den Verdächtigen so tun, als ob sie sie verstehen würden, um mehr Details zu erfahren. Wären sie wütend geworden, hätten die Verdächtigen sofort zugemacht", schildert Ebner das Dilemma.

Für Wiens Kinder- und Jugendanwalt Anton Schmid ist die Tragödie ein Einzelfall, der kaum zu verhindern ist. "Generell nimmt die körperliche Gewalt gegen Kinder nicht zu", glaubt er, "aber die Vernachlässigung. Es gibt immer weniger Zeit für die Erziehung, Kinder werden immer mehr als Belastung empfunden." (red/Michael Möseneder,DER STANDARD Printausgabe 6/7.12.2003)