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Barbara Vine:
"Königliche Krankheit". Aus dem Englischen von Remate Orth-Guttmann. € 24,60/586 Seiten. Diogenes, Zürich 2003.

Foto: Archiv
Martin Nanther, ehrwürdiges Mitglied des britischen Oberhauses, betreibt Ahnenforschung. Dass er damit eine besonders böse Büchse der Pandora öffnet, schwant ihm lange Zeit nicht. Schließlich liegt es nahe, die Biografie von Henry Nanther, dem Leibarzt der Queen Victoria zu schreiben, verdankt doch Martin diesem Ahnen die Erhebung in den erblichen Adelsstand. Aber je intensiver der Nachfahre Briefe, Geburtsurkunden, Fotos und Zeitungsausschnitte sammelt, desto rätselhafter und unsympathischer wird der prominente Urgroßvater.

Barbara Vine, auch unter dem Namen Ruth Rendell bekannt, beherrscht das Handwerk des Erzählens meisterhaft. Parallel zur Ahnen-Archäologie spinnt sie die Geschichte Martin Nanthers aus, der, in zweiter Ehe verheiratet, schwer darunter leidet, dass seine schöne Frau Judy ständig Fehlgeburten hat und sich erst recht mit manischer Obsession den Fortpflanzungsversuchen widmet. Martin ist darob nur mäßig begeistert, traut sich das aber nicht zu sagen. Allmählich kristallisiert sich heraus, dass Martin ein ähnliches Problem beschäftigt, wie Henry Nanther.

Der Urahn hat sich mit der Vererbung der Hämophilie in der Familie Queen Victorias beschäftigt, konnte aber aufgrund des Standes der Wissenschaft keine schlüssige Erklärung für die Bluterkrankheit finden, die so verheerend in den europäischen Herrscherhäusern wütete. Martin hingegen muss erfahren, dass Judy deswegen laufend Fehlgeburten hat, weil bei ihnen beiden ein seltener Gendefekt vorliegt. Schlechte Gene, böses Blut, blaues Blut, alles kreist um diesen mythenbehafteten Themenkomplex.

Barbara Vine wechselt routiniert zwischen dem viktorianischen England mit seiner Doppelmoral und der Gegenwart, die wieder in anderer Weise von Zwängen und ungeschriebenen Verhaltenscodices beherrscht wird: eine runde Mischung aus historischem Krimi und Zeitgeschichte.

Gleichzeitig bietet sie intime Einblicke in die skurrilen Rituale des House of Lords; sie schildert die umständlichen archaischen Zeremonien mit diskreter Ironie und lässt gleichzeitig auch so etwas wie nachsichtige Faszination erkennen. Die Hardcore-Tories haben was für sich, wenn sie durch die Brille einer gebildeten, eloquenten und ein wenig boshaften Schriftstellerin betrachtet werden.

Dankenswerterweise sind dem umfangreichen Text Stammbäume beigefügt. Man würde sonst wohl bald die Orientierung verlieren im Gewusel der zahlreichen Nachkommen des Henry Nanther, der bis zuletzt für eine Überraschung gut ist. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 6./7./8.12.2003)