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Obwohl das Suizidrisiko in Haftanstalten weltweit sehr hoch ist, stieß das Phänomen der Gefangenenselbsttötungen vor allem im deutschsprachigen Raum bislang kaum auf wissenschaftliches Interesse. Erst durch die Studien des jungen Wiener Psychiaters Stefan Frühwald und seiner Arbeitsgruppe gelangten jene Fakten ans Tageslicht, die nun die Basis für eine verbesserte Suizidprävention auch in österreichischen Gefängnissen bilden sollen.

Die im Lauf von zehn Jahren in intensiver Recherchearbeit ermittelten Zahlen sind erschreckend: So ist die Suizidrate für Untersuchungshäftlinge, aber auch für so genannte geistig abnorme Rechtsbrecher rund achtmal so hoch wie jene der österreichischen Normalbevölkerung, Strafgefangene weisen eine immerhin dreimal höhere Rate auf. In Zahlen bedeutet das im Durchschnitt zehn bis zwölf Häftlingssuizide pro Jahr. Die sich daraus ergebende Suizidrate ist in Österreich beträchtlich höher als in anderen westlichen Ländern: Im Untersuchungszeitraum kamen hierzulande 134 Selbsttötungen auf 100.000 Menschen. In Großbritannien waren es 56 und in den USA 20,6.

Um neben den Zahlen auch jene Umstände und Verhaltensauffälligkeiten zu erfassen, die den Selbsttötungen vorangingen, wurden die noch vorhandenen Personalakten aller Suizidopfer zwischen 1975 und 1999 einer Detailanalyse unterzogen. "Dabei zeigte sich", erklärt Psychiater Stefan Frühwald, "dass Suizide bei Häftlingen, die wegen schwerer Gewaltdelikte inhaftiert waren, signifikant häufiger vorkamen. Außerdem hat ein hoher Anteil der Suizidopfer vor der Selbsttötung bereits dokumentierte Zeichen von Suizidalität aufgewiesen - also Suizidversuche und -ankündigungen sowie Selbstverletzungen."

Um mit Sicherheit sagen zu können, ob diese Faktoren tatsächlich auf ein Suizidrisiko schließen lassen, reichte die Untersuchung der Suizidopfer allein jedoch nicht aus. "Wir haben deshalb für jeden einzelnen der 220 untersuchten Suizidfälle zwei Kontrollpersonen eruiert, die in derselben Anstalt zum ungefähr gleichen Zeitpunkt in derselben Haftart angehalten waren, und die das gleiche Geschlecht und die gleiche Nationalität hatten."

Im Rahmen dieser vom Wissenschaftsfonds geförderten Fall-Kontroll-Studie wurden nun jene Parameter untersucht, die aus der vorhergehenden Analyse der Suizidfälle als Risikofaktoren infrage kamen: also die Art des Delikts und der eventuellen Vorstrafen, psychosoziale Faktoren wie Familienstand, Ausbildung, Religion und derartiges, und auch Hinweise auf psychiatrische Auffälligkeiten sowie Suizidankündigungen und -versuche.

Als wesentlichstes Ergebnis nach der Auswertung von über 60 Parametern stand fest: Der wichtigste Indikator für einen Suizid ist seine Ankündigung. "Denn bei der Kontrollgruppe", erläutert Frühwald, "fanden wir kaum Hinweise auf einen geplanten oder versuchten Selbstmord." Eine Erkenntnis, die in die Suizidprävention außerhalb der Gefängnismauern längst Eingang gefunden hat. Bei Gefangenen war die Fachwelt bislang allerdings gespalten: Kündigen Selbstbeschädigungen, Suizidankündigungen und -versuche tatsächlich einen Suizid an oder ist dieses signalisierende Verhalten schlicht und einfach typisch für Menschen in dieser Situation und drückt somit keine spezielle Gefährdung aus?

"Mit unseren Studien konnten wir erstmals und eindrucksvoll belegen, dass Suizidalität in Gefängnissen genauso ernst zu nehmen ist wie in psychiatrischen Krankenhäusern oder auf einer Notfallstation", fasst Stefan Frühwald das zentrale Ergebnis seiner langjährigen Arbeit zusammen. Parallel dazu konnte das österreichische Forscherteam auch eine Reihe bereits bekannter Suizidrisikofaktoren bestätigen: So kam es vermehrt zu Selbsttötungen, wenn die Häftlinge eine psychiatrische Erkrankung hatten, wenn sie in Einzelzellen untergebracht waren oder wenn sie nach einem Gewaltverbrechen ins Gefängnis kamen.

Wie dieses Wissen nun in den österreichischen Strafvollzug integriert werden kann, wird von den Projektmitarbeitern zurzeit mit Vertretern des Justizministeriums diskutiert. "Jetzt haben wir zumindest einmal die Basis für eine vernünftige Diskussion", argumentiert Frühwald. "Der nächste Schritt ist dann die Entwicklung sinnvoller Präventionsmaßnahmen."

Orientieren könnten sich diese etwa an den amerikanischen "Standards of Care", einer Richtlinie zum Umgang mit suizidgefährdeten Insassen, die in den USA von bestimmten Gefängnissen auf freiwilliger Basis eingesetzt wird. "Unser Ziel ist es, für Österreich etwas Vergleichbares zu erarbeiten", erklärt der Psychiater. "Zu diesem Zweck wollen wir nun in einem ersten Schritt eine Liste von Routinefragen erarbeiten, die in das Aufnahmegespräch zu integrieren sind."

Durch die so vom Häftling erhaltenen Informationen kann etwa die Entscheidung erleichtert werden, ob er in einer Einzel- oder einer Mehrpersonenzelle untergebracht werden sollte oder ob möglichst rasch der Kontakt zu einem Arzt oder Psychologen herzustellen ist. Um ihr Wissen auch jenen Menschen zukommen zu lassen, die täglich mit Gefangenen und deren Problemen konfrontiert sind, planen die Forscher Schulungen für Justizwachebeamte: "Viele glauben am Anfang ihrer Berufslaufbahn, dass sie böse Menschen bestrafen, und dann begegnen ihnen schwache, hilflose und sozial ausgegrenzte Individuen mit hohem Unterstützungsbedarf. Sich hier richtig zu verhalten ist nicht immer leicht. Unsere Erfahrungen können dabei eine wichtige Hilfe sein." (Doris Griesser/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6./7. 12. 2003)