Für die einen ist sie eine Verheißung, für die anderen eine Drohkulisse: Die rund ein Jahrzehnt alte Idee von einem Kerneuropa macht im Vor-

feld des EU-Verfassungsgipfels wieder die Runde. Führende Politiker aus Deutschland und Frankreich lancieren sie, um die widerspenstigen Kollegen in Polen und Spanien zur Räson zu bringen. Auch für Österreich wäre dies ein Anlass nachzudenken, ob man zum innersten Kreis der EU gehören möchte. Die Frage könnte sich nach einem Scheitern des Brüsseler Gipfels rascher stellen als erwartet.

Der leicht hysterisch anmutende innenpolitische Streit um die militärische Beistandspflicht innerhalb der EU zeigt allerdings, dass offenbar noch nicht alle österreichischen Politiker und Bürger einer EU- Avantgarde angehören möchten. Dabei ist die Verteidigungsunion nur eine - wenn auch sehr anschauliche - ^Ausprägung eines künftigen, noch engeren EU-Zusammenschlusses.

Wenn Bundeskanzler Wolfgang Schüssel angesichts der Unentschlossenheit in seinem eigenen Land zumindest bei den EU-Partnern konstruktiv darauf hinwirkt, dass die Türen der Verteidigungsunion auch für Spätankömmlinge immer offen bleiben, tut er, was er derzeit tun kann.

Ein Kerneuropa mit Macht verhindern kann nämlich kein Land. Denn wo ein Wille zur Avantgarde ist, ist auch ein Weg: Das haben die Schaffung des Schengenraums und die Kreation des Euro bewiesen. Wer möglichst wenig europäische Einigung möchte, muss möglichst weit bei der europäischen Einigung mitziehen, um sie, solange es geht, zu bremsen und zu verzögern. Großbritannien verfolgt diese Strategie seit seinem Beitritt zu den damaligen Europäischen Gemeinschaften 1973.

Welche Strategie aber verfolgen in diesen Tagen vor dem EU-Verfassungsgipfel Spanien und Polen? - Zumindest bei José María Aznar sind sich die meisten Beobachter einig, dass er seinen Widerstand gegen das neue System der doppelten Mehrheit im EU-Ministerrat im Austausch gegen andere Politprivilegien oder gar gegen finanzielle Wohltaten aufgeben könnte.

Die Minderheitsregierung in Warschau hingegen hat sich dem Anschein nach in ein Eck manövriert, aus dem sie schwer herauskommen kann. Hinzu kommt, dass Polen damit viel Kredit verspielt hat - auch und gerade in Deutschland und möglicherweise auch finanziell. In einer Union der Gebenden und Nehmenden hätten sich die Politiker in Warschau vielleicht etwas bewusster machen müssen, dass gerade Berlin den EU-Beitritt seines östlichen Nachbarn massiv gefördert hat - obwohl dieser nach objektiven Kriterien eigentlich weniger reif ist als die anderen neun Beitrittsländer. Dankbarkeit ist zwar keine Kategorie - Erinnerungsvermögen schon: Warschau dürfte dies bei den Verhandlungen um die EU-Finanzausstattung ab 2006 zu spüren bekommen.

In der Zwischenzeit aber muss die Droh^kulisse Kern^europa herhalten, um den deutsch-französischen Wünschen nach einer wohl gerechteren, sicherlich aber transparenteren Stimmverteilung im EU-Ministerrat Nachdruck zu verleihen. Paris und Berlin stilisieren diesen Punkt zur Schicksalsfrage hoch, da es bei der doppelten Mehrheit letztlich um die Regierbarkeit einer immer größer werdenden Europäischen Union geht: Die Möglichkeit zur Blockade von Mehrheitsentscheidungen muss verringert werden, und dazu dient die Formel "50 Prozent der Staaten, 60 Prozent der Bevölkerungen". Das Sicherheitsnetz für die wirklich vitalen Fragen einzelner Nationen - die Steuern der Briten, das Wasser der Österreicher - bleibt schließlich bestehen, können diese doch auch in Zukunft nur mit Einstimmigkeit im EU-Ministerrat entschieden werden.

Bleibt die Frage, ob ein Kerneuropa wirklich eine Drohkulisse zur Einschüchterung oder eben eine Verheißung ist. Die Antwort könnte ein Drittes sein: Vielleicht ist es eine Notwendigkeit. Spätestens dann, wenn die Union so groß ist, dass im Kreis der 27, 28 oder 29 nur noch Belangloses Mehrheiten findet. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.12.2003)