Infografik: Deutschland zieht Steuerreform vor

Berlin - Die deutsche Regierung und die Opposition haben sich nach unerwartet zähen Verhandlungen endgültig auf das im Vermittlungsausschuss vereinbarte Reformpaket geeinigt. Die so genannte Bereinigungssitzung habe am späten Dienstagabend "all das bestätigt, was am Sonntag vereinbart worden ist", sagte SPD-Fraktionschef Franz Müntefering nach Abschluss der Verhandlungen in Berlin. Die geänderten Gesetzesvorlagen sollten den Fraktionen am Donnerstag vorliegen. Bis Freitag würden die Reformen dann in "ordentliche Texte" gefasst.

Durch den Kompromiss werden die Steuerzahler nach Angaben des Finanzministeriums ab 2004 um 15 Milliarden Euro entlastet. Der Eingangssteuersatz sinkt auf 16, der Spitzensteuersatz auf 45 Prozent. Nach Angaben beider Seiten wird das teilweise Vorziehen der Steuerreformstufe 2005 auf 2004 nun doch zu 30 Prozent mittels Krediten bezahlt. Die Union wollte eigentlich höchstens 25 Prozent akzeptieren. Zu den Arbeitsmarktreformen zählt auch eine Lockerung des Kündigungsschutzes und eine Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose.

Diskussion hält an

Trotz Einigung halten die Diskussionen, gerade was die Arbeitsmarktreformen betrifft, aber weiterhin an. Der sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Markus Kurth, sagte der "Financial Times Deutschland" (FTD) vom Mittwoch: "Entweder der Kanzler gibt eine politische Zusage, dass im nächsten Jahr ein Mindestlohngesetz auf den Weg gebracht wird, oder ich kann diesem Gesetz nicht zustimmen." Demgenüber bezeichnete der SPD-Finanzexperte Joachim Poß ein Mindestlohngesetz als ungeeignet, um einem Missbrauch der neuen Gesetze entgegenzuwirken.

Kurth sagte, die Regelung, dass Langzeitarbeitslose praktisch jeden Job annehmen müssen, werde das Lohnniveau in Deutschland langsam auswaschen. Zudem kämen auf die Sozialgerichte künftig mehr Klagen von Betroffenen zu, die sich gegen die Jobangebote der Arbeitsämter wehrten. "Daher sollte der Gesetzgeber hier tätig werden und einen gesetzlichen Mindestlohn festlegen. Man muss von seiner Hände Arbeit leben können", sagte Kurth. Unter den Grünen hat der FTD zufolge bisher Fraktionsvize Hans-Christian Ströbele sein Nein gegen die Arbeitsmarktreformen angekündigt. Die Abgeordneten Winfried Hermann und Werner Schulz hätten sich ihr Votum noch offen gehalten.

Lange Verhandlungen

Überraschend wurde in der letzten Runde, die rund sechs Stunden dauerte, noch einmal heftig um Details gefeilscht. Für Streit sorgte eine angebliche Deckungslücke bei der vereinbarten Steuerentlastung. Die Union warf dem Finanzministerium einen "Rechenfehler" vor. Müntefering sprach hingegen von einem "Missverständnis". Erst nach internen Beratungen entschloss sich die Union, weiter zu verhandeln.

Unions-Geschäftsführer Volker Kauder (CDU) sagte, die Kompromisslösung trage "die deutliche Handschrift der Union, deshalb haben wir unsere Zustimmung gegeben". Es seien "in ganz wesentlichen Teilen unsere Vorstellungen durchgesetzt worden". So habe die Union der Regierung ganz zuletzt abgehandelt, dass die Regionalisierungsmittel für den öffentlichen Nahverkehr 2004 nur einmalig um zwei Prozent gekürzt werden. Im Handwerk werde künftig für 41 Betriebe der Meisterbrief gefordert bleiben, während die rot-grüne Regierung schärfere Einschnitte wollte.

"Etwas mehr Luft"

Mit dem Reformkompromiss wird sich die Lage des deutschen Haushalts 2004 nach Angaben von Finanzstaatsekretärin Barbara Hendricks (SPD) etwas entspannter darstellen. Die Neuverschuldung werde "auf jeden Fall unter 29 Milliarden Euro" bleiben, sagte sie. Geplant waren bisher 29,3 Milliarden Euro. ""Wir haben etwas mehr Luft dadurch", erklärte der SPD- Finanzexperte Joachim Poß.

Nach der Einigung zwischen Regierung und Opposition droht Bundeskanzler Gerhard Schröder nun eine Zitterpartie bei der Bundestagsabstimmung am kommenden Freitag. Es bedarf noch der Zustimmungen von Bundestag und Bundesrat, um die wesentlichen Reformen plangemäß zum 1. Jänner 2004 in Kraft zu setzen. Bis Dienstag legten sich fünf Abgeordnete von SPD und Grünen auf ein Nein fest, weil ihnen die Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose zu weit gingen. Damit ist die rot-grüne Mehrheit akut in Gefahr. Spitzenpolitiker der Union legten Schröder den Rücktritt nahe, falls er keine eigene Mehrheit erhält. (APA/Reuters/AP)