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"Mathematik nicht sinnentleert und weltfremd präsentieren, sondern als etwas, das Spaß macht"

Foto: Archiv
Wien - Die Lehrerin konnte das Lehrerin-Sein nicht verleugnen: "Nicht auf den Boden schreiben!", rief sie entrüstet. Sekunden später war ihr das wirklich peinlich: Schließlich war Bodenmalerei genau das, was Julia Schär und Peter Dlesk von den Schülerinnen und Schülern der dritten Klasse der evangelischen Volksschule vom Karlsplatz wollten: Die Kinder sollten schreiben. Auf den Boden. Mit Kreide. Zahlen. Zahlenkolonnen. Lange Zahlenkolonnen. Und zwar "solange es geht." Das war sowohl mathematisch als auch räumlich gemeint.

Schon nach wenigen Minuten glich der Boden des "math.space" im Wiener Museumsquartier einer mit Zahlen übersäten Schultafel. Und die aus der Schule mitgekommenen Lehrerinnen staunten: Keines der Kinder bockte, verweigerte oder malte statt Zahlen Blümchen. Mehr noch: Alle hatten offenkundig einen Mordsspaß. Und zwar - tatsächlich - am Rechnen. Und kamen überdies mühelos und unbeschwert weit über jenen (dreistelligen) Zahlenbereich, den der Lehrplan Drittklässlern zumutet oder zutraut. "Das", lachte math.space-Instruktor Dlesk da, "ist immer so: Die Lehrer sind baff, wenn sie merken, wie sehr der in der Schule verordnete Gleichschritt Kinder unterschätzt und unterfordert."

"Vom kleinsten Punkt zur größten Nummer" nennt sich das Projekt im MQ-Mathematikzentrum. Und die Begeisterung der teilnehmenden Kinder ("ich hab's, ich hab's, ich hab's!") bestätigt Julia Schär und Peter Dlesk, wenn sie sagen, dass es "möglich ist, Kindern tatsächlich und auch für das weitere Lern-Leben Lust auf Mathematik zu machen." Der Trick, so Julia Schär, bestehe darin, "Mathematik nicht sinnentleert und weltfremd zu präsentieren, sondern als etwas, das man einerseits braucht, das aber auch viel Spaß machen kann."

Um das am lebenden Objekt zu beweisen, lassen die beiden ausgebildeten Volksschullehrer Neunjährige 90 Minuten lang die Zahlenfolgen des italienischen Mathematikers Fibonacci (eigentlich Leonardo von Pisa, 1170- 1250) spielerisch erkunden und begreifen. Und das, obwohl Fibonaccis Karni- ckelvermehrungsrechenmodell eigentlich Stoff der AHS-Unterstufe ist: Ein sprechender "Mathematikbaum" bringt die Kinder dazu, die Additionsreihen (0+1=1, 1+1=2, 1+2=3, etc.) anhand seines Astwachstums zuerst zu erkennen - und dann ad infinitum (solange es eben Spaß macht) fortzusetzen. Den Endpunkt - die "größte Nummer" - bestimmt jedes Kind selbst.

Auf alle Fälle liegt der weit jenseits dessen, was die Klassenlehrer vermuten. "Die Kinder", referiert math.space-Lehrerin Schär, "sind keine Genies - das steckt alles in ihnen drin, man muss sie es nur herauslassen lassen." Der erste, wichtigste Schritt sei dabei der Verzicht auf die "klassische" Schulmathematik. "Vor allem", so Dlesk, "das Mathematikbuch." Schließlich sei die Welt, egal ob es um Kaninchen, Bäume oder Aktienkurse geht geht, doch voller Mathematik. Man müsse sie nur als spannenden Teil des Alltags begreifen - und auch vermitteln.

In Wirklichkeit, geben Schär und Dlesk zu, richte sich das Projekt ja auch mehr an Lehrer als an Schüler: "Das System Schule steht und fällt mit dem Engagement der Lehrer." Erst wenn die erkennen, dass es manchmal auch in der Schule nötig ist, mit Kreide auf den Boden zu schreiben, sei die Mathe-Mission dauerhaft geglückt: Sonst folgt nämlich auf die einmalige Rechenlust bald wieder der ganz normale Mathe-Frust. (Thomas Rottenberg, DER STANDARD, Printausgabe, 16.12.2003)