Hugues Gall ist zufrieden: Im Parlament wurde nicht mehr über die Berechtigung des "teuren Hauses, das zur Freude einiger Privilegierter unterhalten wird", debattiert.

Foto: Pariser Oper
Hugues Gall, scheidender Direktor der Pariser Opernhäuser Bastille und Garnier, zieht im Gespräch mit Olga Grimm-Weissert ein Resümee seines "Projektes". Sein Nachfolger Gerard Mortier scheint ihm "eine ausreichende Garantie gegen die Routine" zu sein.


STANDARD: Sie sagten kürzlich, dass Sie in Frankreich keine Oper mehr leiten wollen. Heißt das im Klartext, dass Sie es im Ausland nicht ausschließen? Nach dem extrem positiven Bericht der hohen Beamten Philippe Agid und Jean-Claude Tarondeau, der nachweist, dass Sie das so genannte "Baumol- Gesetz", das die wirtschaftliche Unverwaltbarkeit jeder Oper statuiert, widerlegten, und da Sie nach zehn Jahren eine eindeutige Erfolgsbilanz für die beiden Pariser Staatsopernhäuser vorlegen können, müssten doch einige Angebote vorhanden sein? Die Altersfrage ist ja auch kein Problem, da Sie erst 63 sind.

Gall: Natürlich gab und gibt es Angebote. Und die Altersfrage ist tatsächlich nicht so wichtig, denn Rolf Liebermann war, als er die Leitung der Pariser Oper übernahm, so alt, wie ich es jetzt bin. Aber ich finde die französische Gesetzgebung, die vorsieht, dass Operndirektoren, wie die Leiter der staatlichen Betriebe, ihre Tätigkeit nicht länger als bis 65 fortführen können, sehr vernünftig. Was die Auslandsangebote betrifft, ist es nicht so leicht, sie in Erwägung zu ziehen. Man kann Erfolge nicht von einem Land in ein anderes transponieren. Im Moment verfolge ich die Entwicklung der Gesangsszene in China sehr genau. Der Bau der Pekinger Oper nach den Plänen des Architekten Paul Andreu fasziniert mich besonders. Das wird der größte Opernkomplex, den es je gab. Es interessiert mich, was im Inneren passieren wird genauso wie das Gebäude.

STANDARD: Sie werden in Paris unter anderem besonders geschätzt, weil Sie - in den ersten Jahren als Direktor - die ewigen Streiks verhindern konnten. Wegen der 35-Stunden- Woche und wegen der Reform der Teilzeitarbeiter ("Intermittents") gab es aber dann doch wieder Streiks im Jahr 2000 und im Juni/Juli 2003. Ist die französische Streikkultur stärker als gedacht?

Gall: Die Streikkultur beziehungsweise der Korporativismus sind in den Genen unseres Landes eingeschrieben und erreichen ihren Höhepunkt an der Pariser Oper. Ich wäre sehr naiv gewesen, hätte ich geglaubt, ich könnte sie ausmerzen. Das soziale Umfeld, das ich vorfand, war nicht immer einfach, und die Einführung der 35-Stunden- Woche - eine Maßnahme, deren politische und ökonomische Berechtigung mir nach wie vor höchst zweifelhaft erscheint - hat enorme organisatorische Probleme gestellt und kräftige Spannungen erzeugt. Man darf nicht vergessen, dass die Streiks in einem Betrieb proportionell zum Widerstand sind, den die Direktion leistet. Für mich ist das Wesentliche, dass alle Kräfte des Hauses das gleiche, von der Direktion festgelegte Ziel vor Augen haben, nämlich 350 Vorstellungen pro Jahr, 850.000 Zuschauer. Diese Zahlen rechtfertigen die Investitionen des Staates.

STANDARD: Meinen Sie, dass sich die Krise der "Intermittents" bis zur Ära Gerard Mortier ausdehnen könnte?

Gall: Die Krise der "Intermittents" ist extrem schwer wiegend für die lebendige französische Kultur. Sie hat Abweichungen und Missbräuche aufgedeckt, die nicht länger toleriert werden konnten. Die aktuelle Regierung hatte den Mut, die Reform anzugehen, und ich hoffe, dass das Problem bald geregelt sein wird. Ich werde mein Möglichstes tun, damit die Projekte meines Nachfolgers Gerard Mortier nicht eingeengt werden.

STANDARD: Welche Koproduktionen haben Sie mit ausländischen Opernhäusern geplant? Insbesondere mit Wien und Salzburg?

Gall: Ich werde Sie sicher nicht über eventuelle Projekte mit Wien oder Salzburg informieren. Die Frage müssen Sie ab jetzt Gerard Mortier stellen.

STANDARD: Das Theater an der Wien wird Wiens drittes Opernhaus. Haben Sie Ratschläge für Roland Geyer, den designierten Direktor, bezüglich der Programmgestaltung?

Gall: Im Gegensatz zu gewissen Kollegen gebe ich keine Ratschläge, wenn mich die Betroffenen nicht darum bitten. Und ich finde, dass ich dem Wiener Kollegen keine zu erteilen habe.

STANDARD: Stéphane Lissner geht zu den Wiener Festwochen, was Staatsoperndirektor Ioan Holender ziemlich heftig als österreichische Finanzierung des Aixer Festivals kommentierte beziehungsweise kritisierte. Wie reagieren Sie auf so heftige Attacken?

Gall: Klingen solche beleidigenden Äußerungen nicht allzu hausmeisterlich? Sie entsprechen weder meinem Charakter noch meiner Erziehung. Ich halte mich nicht beim Ton auf, sondern bei dem Grund für die Kommentare, die Stéphane Lissners Ernennung zum Direktor für das Musikprogramm bei den Wiener Festwochen hervorrief: Wie kann man nur annehmen, dass ein Verwaltungsrat sich dazu hergäbe, öffentliche österreichische Gelder zugunsten eines ausländischen Festivals zu veruntreuen? Das scheint mir völlig unrealistisch.

STANDARD: In Österreich wurde die auf 19 Jahre verlängerte Holender-Ära kritisiert. Wie sehen Sie diese Langlebigkeit?

Gall: Wenn die verantwortlichen österreichischen Politiker es für richtig hielten, den Vertrag von Ioan Holender weiter zu verlängern, heißt das, dass seine Politik an der Spitze der Staatsoper ihren Erwartungen entspricht. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.

STANDARD: Die Ära Gall war der Aufbau eines funktionierenden Opernbetriebes an der Bastille - sicher verwaltungstechnisch schwierig durchzuziehen, aber künstlerisch vielleicht die spannendste Periode mit Neuproduktionen und dem vollen Einsatz der technischen Möglichkeiten. Könnte danach Routine kommen? Welches Erbe überlassen Sie Mortier?

Gall: Ich ziehe den Ausdruck "Gall-Projekt" dem der "Ära Gall" vor. Das Projekt legte meiner Meinung nach die Ziele und die dazu benötigten Mittel so genau fest, dass Routine vermieden wurde. Und Gerard Mortier scheint mir eine ausreichende Garantie gegen die Routine an der Pariser Staatsoper. Was ich Herrn Mortier überlasse, ist ein funktionierendes Haus, in dem Vertrauen herrscht. Vertrauen zwischen der Oper und ihrem Publikum, Vertrauen zwischen der Direktion und den Angestellten und Vertrauen zwischen der Oper und dem Kultur- und Finanzministerium. Der beste Beweis für dieses Vertrauen ist, dass - anlässlich der Budgetdebatte im Parlament - nicht mehr über die Berechtigung dieses "teuren Hauses, das zur Freude einiger Privilegierter unterhalten wird", debattiert wurde. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.12.2003)