Eine (unausgesprochene) Meinungsverschiedenheit gibt es zum einen im finanziellen Bereich. Die Polen behaupten - in selbstherrlicher Weise -, dass sie nicht nur ihre eigenen nationalen Interessen vertreten, sondern auch die aller kleineren Mitgliedsländer.
Die Tatsachen sprechen allerdings eine andere Sprache. Zwei Drittel des EU-Budgets fließen in die Landwirtschaft und in die Entwicklung ärmerer Regionen. Spanien gehört gemeinsam mit Portugal, Griechenland und Irland zu den größten Nutznießern dieser Regelung. Und Polen, ein weiteres armes Land, möchte ebenfalls ein Stück von diesem Kuchen abbekommen. Es ist ja allseits bekannt, dass die Reform der Landwirtschaftspolitik seit mehreren Jahrzehnten überfällig ist und auf die Kürzung von Subventionen hinausläuft. Die Reform kann jedoch nicht ohne Mehrheit im EU-Ministerrat beschlossen werden. Spanien und Polen wollen also offensichtlich ihre Stimmenprivilegien in diesem Bereich nicht aufgeben.
Die schwerer wiegenden Differenzen sind allerdings politischer Natur. Welche Art von EU wollen die - gegenwärtigen und zukünftigen - Mitgliedsländer? Möchten sie eine politisch integrierte EU? Wollen sie langfristig so etwas wie eine föderale Union? Oder lieber eine Freihandelszone auf der Basis irgendwelcher zwischenstaatlicher Abkommen? Mit der bevorstehenden Megaerweiterung wurden diese Fragen akut. Teilweise aufgrund des bloßen Stimmengewichts der neuen Mitglieder, in erster Linie aber wohl deshalb, weil den mitteleuropäischen Beitrittsländern der Lernprozess der Integration fremd ist, den die bestehenden Mitglieder in den vergangenen letzten 50 Jahren durchlaufen haben. Außerdem wurde dieser Lernprozess ernsthaft beschädigt. Als die EU im Jahre 1950 ins Leben gerufen wurde, war das politische Dilemma vergleichsweise simpel - und so auch seine Lösung: Die größeren Mitgliedstaaten - Frankreich, Deutschland und Italien - akzeptierten in manchen Bereichen eine gemeinsame Entscheidungsfindung, weil sie glaubten, weiterhin unabhängige Nationalstaaten zu sein. Die drei kleinen Benelux-Mitgliedstaaten - die Niederlande, Belgien und Luxemburg - akzeptierten eine gemeinsame Entscheidungsfindung, weil sie glaubten, dadurch ihre nationalen Interessen bestmöglich zu vertreten.
Über die Jahre hingen sie der folgerichtigen, aber paradoxen Überzeugung an, dass die Interessen kleiner Länder am besten gewahrt bleiben, wenn man sich der Logik von Mehrheitsbeschlüssen unterwirft. Die zehn neuen EU-Mitglieder haben eine andere Geschichte als die Niederlande, Belgien und Luxemburg. Das Problem ist nicht nur, dass sie wirtschaftlich weniger entwickelt oder ihre politischen Institutionen unzureichend und korrupt sind. Das wirkliche Problem für die EU ist vielmehr, dass die zehn neuen Mitglieder offenbar nicht die Absicht haben, die gleichen Lektionen zu lernen, und zwar deshalb nicht, weil sie über den wahren Zweck des europäischen Projekts anderer Meinung sind als die alten Mitglieder.