Wien - Die Warnungen davor, Polen zum Sündenbock für das Scheitern des EU-Verfassungsgipfels zu machen, haben ihre Berechtigung. Die Zuspitzung des Konflikts um die Stimmengewichtung auf eine Kraftprobe zwischen den EU-Gründerstaaten (Frankreich, Deutschland, Benelux, Italien) und dem unverschämten Neuling eignet sich zwar gut zur medialen Vermittlung, entspricht aber nur sehr begrenzt den Realitäten.

Sowohl unter den alten als auch unter den künftigen Mitgliedern gibt es einige, die einiges am Verfassungsentwurf des Konvents auszusetzen haben. Die von Warschau erzwungene Vertagung kommt ihnen nicht ungelegen.

Viele erwarteten Einlenken in letzter Minute

Was Polen selbst betrifft, so erklärt sich die Härte seiner Regierung aus einer Reihe von Faktoren. Und das war offenbar all jenen nicht klar, die ein Einlenken Warschaus in letzter Minute erwartet hatten. Innenpolitisch steht die Linksregierung unter Leszek Miller wegen des Diktats der leeren Kassen mit dem Rücken zur Wand. Jedes Nachgeben in der EU-Verfassungsfrage würde ihre Wiederwahlchancen noch weiter verringern.

Tatsächlich ist ein Argument kaum zu entkräften: Die Polen haben in einer Volksabstimmung dem EU-Beitritt auf der Basis des Nizza-Vertrags zugestimmt; wird dieser aufgehoben, entsteht eine neue Situation. Dann wäre die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Parlament oder eine Mehrheit bei einem weiteren Referendum für die Ratifizierung der EU-Verfassung kaum zu bekommen.

Sendungsbewusstsein

Dazu kommt ein gewisses Sendungsbewusstsein, das sich aus der wechselhaften und meist leidvollen polnischen Geschichte erklärt. Warschauer Regierungsvertreter lassen im Gespräch immer wieder erkennen, dass Polen in seinem Widerstand gegen eine Dominanz der Großen in der EU auch im Namen aller mittleren und kleinen Länder auftrete, die leider selbst nicht so mutig seien.

Historischer Bezug ambivalent

Dass der historische Bezug aber durchaus ambivalent sein kann, zeigt gerade eine Phase der polnischen Geschichte, die - ob bewusst oder unbewusst - bei der Position Warschaus in der Verfassungsdebatte eine Rolle spielen dürfte: In der polnischen Adelsrepublik galt ab 1652 das "Liberum Veto" (Vetorecht). Mit ihm konnte jedes Parlamentsmitglied den Reichstag beschlussunfähig machen. Dadurch wurde das Land praktisch unregierbar und zum Spielball der Eigeninteressen der Adelsfraktionen als auch ausländischer Mächte.

Nachdenkpause

Dass Warschau mit seinem De-facto-Veto gegen den Verfassungsentwurf bewusst derartige Folgen für ganz Europa provozieren will, wird man kaum unterstellen können. Jedenfalls scheinen aber die meisten mittelosteuropäischen Beitrittsländer durchaus nicht unzufrieden mit der erzwungenen Nachdenkpause. Sollte sich wirklich ein Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten herausbilden, so hätten auch die neuen Mitglieder die Wahl.

Ungarn und Tschechien für schnellere Integration

Unter Letzteren zeigen in Zentraleuropa vorerst Ungarn und Tschechien klare Präferenzen für eine schnellere Integration. Dabei steht die tschechische Regierung unter dem Sozialdemokraten Vladimir Spidla allerdings in deutlichem Widerspruch zum rechtskonservativen Präsidenten Václav Klaus, der seit jeher gegen einen europäischen "Superstaat" auftritt.

Von Polen wiederum kann man sich gerade mit Blick auf die Geschichte schwer vorstellen, dass es abseits stehen will, wenn sich tatsächlich ein neues Kerneuropa formiert. (DER STANDARD, Printausgabe 16.12.2003)