The late, late Johnny

Foto: Universal

"I'm not a savior and I'm not a saint. The man with the answers I certainly ain't. I wouldn't tell you what's right or what's wrong. I'm just a singer of songs".

Mit Singer Of Songs eröffnet Johnny Cash die dritte von fünf CDs der eben posthum erschienenen Sammlung von unveröffentlichtem Material, das der im September verstorbene Jahrhundertkünstler in den letzten zehn Jahren vor seinem Tod aufgenommen hat. Eine Zeit, die in der Biografie Cashs als die American Recordings-Ära Eingang und als erstaunlichste, ergiebigste und erschütterndste allgemein Anerkennung fand. Rick Rubin, zuvor als Produzent von HipHop-, Crossover- und Metal-Acts wie Slayer, den Beastie Boys oder den Red Hot Chili Peppers bekannt geworden, befand sich Anfang der 90er-Jahre auf der Suche nach einem Künstler, der wirklich herausragend sein sollte, sich jedoch aus irgendwelchen Gründen in einer künstlerischen Sackgasse befand: "A unique character, kind of his own force of nature", wie es Rubin im exzellenten Booklet zu Unearthed beschreibt. Fündig wurde er bei Johnny Cash.

Rubin holte Cash aus dessen Ring-of-Fire-Endlos-Tingeltangel, mit dem dieser damals um den Globus zog. Er nahm ihm seine auf Autopilot agierende Band und forderte ihn auf, allein mit der Gitarre die Songs zu spielen, die er wirklich liebte. Außerdem präsentierte er dem damals bereits im Pensionsalter befindlichen Cash Songs von Musikern, von denen er dachte, es sei Material, das zur Legende Cash passen würde. Vier epochale Alben, allesamt Grammy-gewürdigt, und unzählige Aufnahmen sind so entstanden. Die beiden Freunde planten außerdem schon länger eine Kompilation von Songs zu veröffentlichen, die es aus irgendwelchen Gründen nicht auf eines der vier Alben geschafft hatten. Diese liegen mit Unearthed nun vor.

Doch Unearthed ist mehr geworden: Es ist Cashs künstlerisches Testament, sein Erbe. Das war so nicht geplant. Zwar galten Krankheit, Schmerz und Tod als ständige Wegbegleiter des an autonomer Neuropathie leidenden Cashs. Doch selbst der unerwartete Tod seiner Frau June Carter Cash im Frühling dieses Jahres konnten ihn nicht davon abhalten, Songs zu schreiben und aufzunehmen.

Die erste CD, Who's Gonna Cry betitelt, präsentiert Cash auf seinem ureigenen Terrain. Er interpretiert eigene und fremde Klassiker, die er seit den 50er-Jahren im Repertoire hat: Long Black Veil etwa, die Jimmie Rodgers-Nummer Waiting For A Train oder das nachtschwarze Dark As A Dungeon. Es fällt einem schwer, hier nicht pathetisch zu werden. Denn Cashs Vermögen Songs zu beleben, sie seiner Biografie einzuverleiben, erblüht hier in einer Intensität wie man sie von den intimsten Momenten seiner American Recordings kennt: Mit stoischer Größe, die sich nie selbst überhöht, erzählt er spartanisch instrumentierte Geschichten, die so alt sind wie die Menschheit selbst. Seine Zutaten sind Glaube, Liebe und Hoffnung ebenso wie schwarzer Humor und der selbst erfahrene Geschmack des Scheiterns.

Den zweiten Teil eröffnet Cash mit einer von vielen Coverversionen. Pocahontas von Neil Young wird hier mit wehmütigen Streichern und zurückhaltendem Keyboardeinsatz zu einer Gänsehautnummer. Es folgt I'm A Drifter von Dolly Parton und damit auch der Beweis, dass sich selbst zwei Meister irren können. Wie das unsägliche You Are My Sunshine des legendären singenden Senators von Louisiana, Jimmie Davis, zählt I'm A Drifter zu den beiden Nummern in dieser Sammlung, die man als entbehrlich einstufen kann. Dafür besticht Cash mit großartigen und bei ihm selten zu hörenden Blues-Stücken wie "T" For Texas, das die die National Rifle Organisation erfreuenden Zeile "I'm gonna buy me a pistol just als long as I'm tall" enthält. Ein Traum! Ebenso wie Devil's Right Hand, das ihn wiederum vom Verdacht "gun crazy" zu sein, rein wäscht.

Erhebend sind auch die präsentierten Duette: Etwa mit dem verstorbenen The-Clash-Sänger Joe Strummer, mit dem Cash Bob Marleys Redemption Song - so heißt gleichzeitig CD Nummer drei - interpretiert, während er mit einem vor Respekt zitternden Nick Cave Cindy Cindy gibt. Bevor die fünfte CD einen Querschnitt durch die vier American-Recordings- Alben bietet, widmet sich Cash ein Album lang unter dem Arbeitstitel My Mother's Hymn Book alten Gospels: Der Tod ist nicht das Ende. Musik für die Ewigkeit. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.12.2003)