Vor dem Kosovokrieg 1999 wären Genossen auf SPD-Parteitagen noch beschimpft worden, hätten sie Sätze wie die folgenden von sich gegeben: "Wer Normalität fürchtet, weil er sich erinnert, was deutsche Normalität einmal gewesen ist, hängt an der Vergangenheit; er wird auch gegen seinen Willen zu ihrem Gefangenen." Doch: "Die Vergangenheit darf die Zukunft nicht behindern."Mit dem ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit 1945 hat sich auch die pazifistische Tradition deutscher Nachkriegssozialdemokratie erledigt - und das zu Recht, wenn man den Ausführungen von Egon Bahr, des engen Gefährten Willy Brandts, folgt. Grundthese

Bahrs Grundthese ist denkbar einfach und passt zur US-kritischen Grundstimmung in Europa, die das transatlantische Verhältnis derzeit prägt: Ohne Emanzipation von den USA sei Deutschland auf dem Weg zur völligen Selbstaufgabe. Nur die konsequente Besinnung auf die eigenen Stärken - wirtschaftliche und zivile Macht - biete da einen Ausweg; allein der von Gerhard Schröder proklamierte "deutsche Weg" sei deshalb geeignet, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen der deutschen "Machtversessenheit" der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und der "Machtvergessenheit" der zweiten. Bahr: "Ohne die Selbstbehauptung unserer Werte wären wir auf dem Weg vom Protektorat zur Kolonie."

Weil Bahrs historische Bilanz von 1945 bis zum Mauerfall im Schnelldurchlauf daherkommt, bleibt in der Analyse jedoch einiges auf der Strecke. Etwa beim Hinweis auf das Verbot eines Angriffskrieges im deutschen Grundgesetz: Als im Kosovokrieg ein Mandat der UNO zur Bombardierung Jugoslawiens fehlte, scherte das die deutsche Regierung anscheinend nicht. (Markus Bickel/DER STANDARD, Printausgabe, 19.11.2003)