Die Erwartungen vor der Rede des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon in Herzliya waren enorm - und sie wurden, völlig wertfrei gesprochen, nicht enttäuscht. Die Richtung, in die er Israel führen will, ist unmissverständlich klar. Weniger offensichtlich ist, ob er seinen Plan wirklich ausführen können wird, denn dem stehen zwei entscheidende Kräfte dagegen: die USA und die israelischen Siedler und ihre Lobby. Aber man tut gut daran, ihn ernst zu nehmen.

Der Abtrennungsplan, so Sharon, soll nur in Kraft gesetzt werden, wenn die Palästinenserbehörde weiter ihre Roadmap-Verpflichtungen, vor allem die Zerstörung der - sehr breit auslegbaren - terroristischen Infrastruktur, nicht erfüllt. Dass es so kommen wird, erwartet Sharon jedenfalls: Er rechne damit, dass Palästinenserpremier Ahmed Korei das nächste Jahr politisch nicht überlebe, sagte er jüngst. Auch der Hinweis, dass einige Elemente des "dis^engagements" bereits umgesetzt werden, während man noch offiziell der Roadmap anhängt, spricht Bände.

Weil es so klar ist, wohin der Hase läuft, können die USA dem im ersten Moment recht vernünftig - und angesichts der Situation, in der die Israelis seit drei Jahren leben, verständlich - klingenden Wunsch nach einem "einseitigen Rückzug" nichts abgewinnen. Die Aufgabe von nicht einmal der Hälfte des Westjordanlands, wobei die großen Siedlungsblöcke, das Jordantal (und Jerusalem sowieso) Israel zugeschlagen würden, ist genau das, wovon Sharon im Kontext eines Palästinenserstaates - und dafür hat er einen immens weiten Weg zurückgelegt - immer gesprochen hat: Das ist seine Maximalkonzession an die Palästinenser, die dem in Verhandlungen nie und nimmer zustimmen würden.

Für einen Frieden müsste er mehr geben: Der Genfer Mustervertrag, der einen prinzipiellen Rückzug auf die Grüne Linie von 1967 und eine Teilung Jerusalems vorsieht, ist für die Rechte eine Horrorvorstellung, die ihren Eindruck nicht verfehlt hat. Noch mehr Eindruck machte aber, dass die USA die Genfer Initiative mit freundlichem Interesse aufgenommen haben.

Bleibt die Frage, ob Sharon im entscheidenden Moment stark genug ist, sich einem US- Veto entgegenzustellen und im eigenen Land zu riskieren, dass bei der Räumung von Siedlungen Blut fließt. Ein Wiederaufleben des in den vergangenen Wochen abgeflauten Terrors würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Sharon den Startschuss zur Umsetzung geben kann (soweit er das noch nicht getan hat). Genauso wie Sharons Proklamation ein Wiederaufleben des Terrors wahrscheinlicher macht.

Denn dass die "Sicherheitslinie", auf die sich Israel einseitig zurückziehen würde, nicht politisch und deshalb reversibel sein soll, glauben natürlich auch die Palästinenser nicht. Sharon gab sich auch keine sonderliche Mühe, die Wahrheit zu verbergen: Siedlungen würden aufgegeben, die ohnehin nicht israelisches Territorium sein werden. Behalten würde, was israelisches Territorium sein wird.

Vom diplomatischen Standpunkt her war Sharons Rede brillant: Er hat den Palästinensern die Rute ins Fenster gestellt, der Ball ist auf ihrem Feld - wobei die Frage völlig ausgelassen wird, ob sie ihn überhaupt spielen können. Er hat den Siedlern Zeit gegeben, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie Abschied von Groß-Israel nehmen müssen - und trotzdem den zwei rechts vom Likud anzusiedelnden Koalitionsparteien ermöglicht, erst einmal in der Regierung zu bleiben. Er hat so viele verbale Verbeugungen von den US-Wünschen absolviert, dass US-Präsident George Bush, der angesichts der Situation im Irak und den sich nähernden Präsidentschaftswahlen kein Interesse an einer Konfrontation hat, seinen Ärger weiter still hegen und nicht offen legen muss.

Und er hat vor allem den angesichts des blutigen Patts verzweifelten Israelis einen neuen Weg in Aussicht gestellt. Ob es der Weg zu Frieden und Sicherheit ist, ist jedoch mehr als fraglich. (DER STANDARD, Printausgabe, 20/21.12.2003)