Wien - Heute reichen Fußballfiguren kaum über den Tellerrand ihres Sports hinaus, manche ganz besonders Populäre wie Teamchef Hans Krankl dürfen im ORF showkochen. Die gesellschaftliche Harmlosigkeit der Kickerei liegt vielleicht auch an der Biedermeierlichkeit, welche der Rückzug ins National-Regionale als Reflex auf die Globalisierung mit sich bringt.

Empörung aus Kreisen der Austrianer

Im Tausendjährigen Reich des Schwachsinns erwarb der Wunderteam-Mittelstürmer Matthias Sindelar 1938 das Kaffeehaus Annahof in Favoriten. Peter Menasse veröffentlichte in der von ihm geführten Zeitschrift NU Dokumente, die ihm von der Familie des Vorbesitzers Leopold Simon Drill übergeben wurden. Den Papieren zufolge bediente sich Sindelar am Unglück seines Nächsten, denn er kannte Drill gut. Menasse schlägt seither Empörung aus Kreisen der Austrianer entgegen, die ihren liebsten Helden beleidigt sehen: "Ich habe nichts dagegen, dass man sich einen Mythos schafft, ich bin ja auch Austrianer und damit aufgewachsen. Aber Sindelar ist offenbar der Falsche. Der Punkt ist: 1938 war es zu spät für Heldentaten. Es gibt eine handschriftliche Notiz von ihm, dass er Arier ist." Das mag verständlich sein und zum Überleben in einem totalitären System notwendig, so Menasse, eine bewundernswürdige Tat sei es nicht.

"Er hat bei den ,richtigen' Stellen um Unterstützung angesucht, damit er das Kaffeehaus kriegt, ich denke, das ist eine sehr verkrampfte Interpretation, um das alles zurechtzubiegen." Friedrich Torberg, Alfred Polgar und andere jüdische Emigranten konstruierten den Mythos Sindelar, macht ihn das nicht unangreifbar? Menasse: "Dem Torberg waren die Umstände der Arisierung unbekannt. Ich kann heute leider nicht mit ihm über die Dokumente diskutieren. Außerdem ist das Harmoniebedürfnis ja auch positiv. Wie hätte man es sonst in Österreich nach dem Krieg ausgehalten, wenn man nur alle negativen Gedanken an sich herangelassen hätte?"

Sindelar habe halt besser in das Bild des feinnervigen Helden gepasst, so Menasse. "Ein bulliger Rapidler, der das Tor niederrennt, wird eher mit Untaten assoziiert." Von der laut Gauleitung politischen Unzuverlässigkeit der Mutter und Schwestern Sindelars auf dessen Stellung zur NSDAP zu schließen hält Menasse für "positive Sippenhaftung". Doch räumt er ein, dass eben jeder Mensch seine eigene Deutung der Geschichte entwickle. "Aber ich habe hier ein Dokument, in dem die Arisierungsstelle vom Parteigenossen Sindelar spricht. Das ist zwar kein faktischer Beweis, dass er Mitglied der NSDAP war, aber ein schönes Zeichen ist es auch nicht."

Sindelar, der Einberufungen in die großdeutsche Nationalmannschaft unter dem Kommando des ewigen deutschen Fußballidols Sepp Herberger verweigerte, habe vielleicht "zwei Seiten. Das System hat sicher die Schrauben angedreht, im März '38 war es noch nicht so weit wie im Sommer, als Sindelar das Kaffeehaus gekauft hat."

War kein Film

Von der Heftigkeit der Reaktionen auf seine Sindelar-Revision sei er, Menasse, überrascht, andererseits aber zufrieden, dass jetzt auch über Leopold Simon Drill geredet werde, nicht nur über den Mythos Sindelar. "Man hat mir vorgeworfen, ich sei ein Grün-Weißer. Ein Jude hat mir einen langen Brief im Namen Sindelars geschrieben, in dem er mir ausführt, dass er, also Sindelar, das alles ja nur für Drill gemacht habe." Ein schöner Mythos, zugegeben. Auch der Wunsch nach strahlenden Helden sei verständlich, allerdings schwer zu befriedigen. "Man kann sich heute die vergiftete Atmosphäre von damals nicht vorstellen. Und keiner kann sagen, wie er reagiert hätte. Nur im Hollywood-Film ist immer alles klar." (DER STANDARD Printausgabe 22.12.2003)