Gesetzt den Fall, der Hegelsche Weltgeist hätte sich gefragt, was nach dem 3. Oktober zu tun sei, um die Freiheitlichen Jörg Haiders nicht nur salon-, sondern regierungsfähig zu machen, er hätte keine bessere "List der Vernunft" finden können als jene Dramaturgie, die Österreich seit den Herbstwahlen in Atem hält. Unmittelbar nach der Wahl, als die Bestürzung groß, die Empörung des Auslandes laut und das Warnblinken gegen den Rassismus heftig war, war eine Regierungsbeteiligung der FPÖ undenkbar. Wer diese wollte, musste vor allem eines: Zeit gewinnen und eine Situation schaffen, in der die Beendigung der immer ermüdender werdenden Distanzierungsrituale gegenüber Haider nahezu als Befreiungsschlag empfunden werden konnte.

Die endlosen Sondierungs-, Zukunfts- und sonstigen Gespräche, die Geheimverhandlungen und Schweigegelübde, der Stil und der Abbruch der Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP und schließlich das irritierende Insistieren des Bundespräsidenten auf einen roten Kanzler haben genau diese Situation provoziert.

Wie immer es weitergeht: Aus dem ehemaligen Gottseibeiuns, dem nach der Wahl ein Wochenmagazin noch Teufelshörner aufgesetzt hatte, ist ein vielbegehrter Gesprächs- und Verhandlungspartner geworden - und das sogar gegen den Willen der Kronen Zeitung.

Vom Bollwerk zur Buhlschaft

Wie es zurzeit aussieht, wird es zu einem kuriosen Wettrennen der Regierungsbildungen zwischen Klima auf der einen und Schüssel/Haider auf der anderen Seite kommen - und wer damit in den nächsten Tagen zuerst beim Bundespräsidenten vorstellig wird, hat vielleicht gewonnen: die Demokratie einer Skifahrernation.

Unter solchen Perspektiven verwandeln sich allerdings auch moralische Standards und politische Gewichtungen schneller, als es mancher der Beteiligten mit seinem Gewissen vereinbaren können sollte. Aus dem heroischen Antifaschismus der SPÖ-Spitze wurde über Nacht ein Buhlen um die parlamentarische Unterstützung der Freiheitlichen, mit augenzwinkernden Andeutungen in Richtung Zukunft. Etliche Medien, die sich bislang aufgeregt als Bollwerk gegen den Rechtsruck verstanden hatten, sehen nun alles ganz gelassen oder drucken freundliche Porträts des Kärntner Landeshauptmanns zu dessen 50. Geburtstag, und der deklarierte Haider-Kritiker Franz Fischler gibt aus Brüssel zu verstehen, dass sich auch Europa mit einer Regierungsbeteiligung der FPÖ arrangieren könnte.

Was nüchterne Beobachter immer schon vermuteten, wird nun durch die Ereignisse bestätigt: dass die moralische Aufrüstung gegen die FPÖ weniger der Sorge um den Zustand der Humanität in diesem Land als vielmehr dem eigenen Machterhalt gedient hatte. Nun, da die Macht offenbar nicht anders als mit Haider erhalten werden kann, öffnen sich wie von Geisterhand die Türen.

Der 21. Jänner dokumentierte so nicht nur das Ende einer Ära, sondern auch die Bankrotterklärung eines offenbar ziemlich verlogenen politischen Moralismus. Der Gewinn dieses Bankrotts ist allerdings beträchtlich: Robert Menasse sprach im STANDARD (22. 1.) von einem "Glückstag" für Österreich, da er für dieses Land eine Wiedergewinnung des Politischen bedeute.

Tatsächlich, und dies wird im Erstaunen über die Kapriolen der Regierungsverhandlungen und dem Verhalten des Präsidenten gerne übersehen, bietet die neue Situation auch den Parteien die Möglichkeit, sich unter geänderten Bedingungen, befreit vom Korsett einer Zwangsgemeinschaft, inhaltlich schärfer zu positionieren. Denn hinter dem Scheitern der Verhandlungen standen ja nicht nur persönliche Animositäten oder unerfüllbare Forderungen, sondern auch und vor allem innerparteiliche Spannungen, die letztlich auf tief greifende Interessenkonflikte zurückzuführen sind.

Der nicht ganz unverständliche Widerstand der Gewerkschaften gegen Pensionsreform, Staatsverschlankung und neoliberale Unternehmensfreundlichkeit wird auch durch eine neue Regierung so schnell nicht aus dem Weg zu räumen sein. Vor allem für die SPÖ bietet sich, sei es in einer Minderheitsregierung, sei es in der Opposition, die Möglichkeit, eine längst fällige programmatische Neuorientierung vorzunehmen, die klärt, welchen Sinn man dem Begriff Sozialdemokratie überhaupt noch zu geben gedenkt.

Wie gut, dass es die Kammern gibt

Keine Frage, ein Land ist in Bewegung geraten. Deshalb von Staatskrise zu reden, ist Unsinn. Es wird sich einiges ändern, aber nicht alles. Die tradierten Strukturen und Verhältnisse werden nicht so schnell verschwinden, wie manche es sich vielleicht wünschen, nur weil nach 13 Jahren großer Koalition nun eine andere Regierungskonstellation ausprobiert wird.

Und, paradox genug, gerade die von eifrigen Reformern viel geschmähte Beharrlichkeit der Bürokratie diverser Kammern und Interessenvertretungen wird es erlauben, dass Österreich die politischen Experimente der nächsten Zeit einigermaßen unbeschadet überstehen wird.

Denn um Experimente wird es sich in jedem Fall handeln. Eine Minderheitsregierung, der womöglich beim ersten Zusammentreten schon das Misstrauen ausgesprochen wird, wäre nicht einmal ein Intermezzo, und eine Koalition der ÖVP mit der FPÖ hätte formell zwar eine stabile Mehrheit, müsste aber gegen eine starke Opposition, Vorbehalte aus dem Ausland und womöglich gegen die Kronen Zeitung regieren.

Fraglich, wie lange solches gut gehen kann, zumal die Zuverlässigkeit und Kompetenz der FPÖ als Regierungspartner erst ausgetestet werden muss. Und darüber hinaus ist es auch nicht ausgeschlossen, dass sich Jörg Haider durch eine seiner Entgleisungen wieder einmal selbst im letzten Moment aus dem Spiel nimmt. Hoffen sollte man darauf allerdings nicht.

Sehnsucht nach klaren Verhältnissen?

Die neue Situation gibt aber auch der vierten im Parlament vertretenen Partei neue Chancen. Als Einzige sind die Grünen in den laufenden Poker um die Macht nicht involviert. Aus dieser Position einer unbestechlichen Oppositionspartei, die ihr Verhältnis zu Haider auch nicht ändern muss, ließe sich durchaus Kapital schlagen, zumal die klassischen grünen Anliegen bei den diversen Koalitionsverhandlungen kaum beachtet werden.

Das Angebot der Grünen, eine SP-Minderheitsregierung zu unterstützen und damit wenigstens ein bisschen mitzuspielen, war so gesehen zumindest voreilig.

Manche, wie Robert Menasse, wollen bei den neu gewonnenen vielfältigen Koalitionsoptionen als Inbegriff einer lebendigen Demokratie allerdings nicht stehen bleiben und fordern gleich ein Wahlrecht, das es der Partei mit der relativen Stimmenmehrheit erlauben soll, mit absoluter Parlamentsmehrheit allein zu regieren. Damit wären einerseits klare Verhältnisse und andererseits wechselnde Regierungen garantiert.

Solche Ideen werden allerdings auf wenig Gegenliebe stoßen. Nicht nur, weil Koalitionsverhandlungen endlich wieder einmal richtig spannend sein können; nicht nur, weil zwar alle davon reden, dass sie aus Verantwortung für dieses Land handeln, die Alleinverantwortung aber scheuen; nicht nur, weil die Idee des Verhältniswahlrechts manches für sich hat; sondern vor allem, weil wir zwar endlich klare Verhältnisse wollen - aber so klar sollten sie dann doch auch wieder nicht sein.

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien, Essayist und Kritiker; der hier leicht gekürzt wiedergegebene Text erscheint zeitgleich im Züricher "Tages-Anzeiger".