Ist es wirklich eine gute Idee, eine Debatte zur Lage der Welt, in der wir leben, mit der Frage zu beginnen, ob der Kapitalismus die Rolle des "Schicksals" eingenommen hat? Auch wenn die Anführungszeichen das Pathos ein wenig mildern - noch vor einiger Zeit hätte es diese Frage wohl nicht in die Headline geschafft. Sagt das nicht mehr über die Wirtschaftsmentalitäten jenes Teils der reichen Welt, in dem wir leben, aus als über diese Welt selbst?

Jahrzehntelang war es selbstverständlich, dass - von kleinen Unterbrechungen abgesehen - der Konjunkturmotor läuft und ein einigermaßen stabiles, wenn auch immer mehr auf Pump finanziertes Wachstum die ebenso wachsenden Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt. Da ändert sich gerade etwas: Es zeigt sich, dass der Krisenzyklus komplexer Wirtschaften, dessen Ende viele verkündet hatten, immer noch existiert, und zwar mit allen Konsequenzen von einer mittlerweile strukturellen Arbeitslosigkeit bis zur in alle gesellschaftlichen Verästelungen reichenden Finanzkrise des Staates; gleichzeitig zeigt sich, dass die viel gescholtene Globalisierung nicht nur darin besteht, dass die bösen reichen Länder billig in den armen Ländern produzieren lassen und so ihren Reichtum mehren, sondern dass sie ein dynamischer Prozess ist, in dessen Verlauf die reichen Länder zunächst Arbeitsplätze verlieren und allmählich mit einer Konkurrenz aus neuen Produzenten und Dienstleistern konfrontiert werden, denen die hierzulande hochgehaltenen sozialen Standards einstweilen einfach egal sind und die aufgrund von Währungsvorteilen preismäßig auf dem Weltmarkt kaum zu schlagen sind.

Keiner weiß genau, ob der wieder einmal verkündete Aufschwung kommen wird, ob es sich dabei um ein "jobless growth" handeln wird und vor allem ob er nicht bloß eine kurzfristige Zacke in einer prinzipiellen Abwärtsbewegung darstellt. Sowohl nationale Ökonomien wie auch die Weltwirtschaft sind derzeit von einer Komplexität, die nur Hochstapler überblicken. Nur ein kleines Beispiel, das mich überrascht hat: Die längere Verweildauer der Kids im "Hotel Mama" beginnt den Wohnungsmarkt zu verwirren und damit die ohnehin angeschlagene Bauindustrie zu beeinflussen. Wussten Sie das?

Etwas allerdings wissen wir alle: das Anspruchsniveau der Bevölkerung liegt höher, als es die wirtschaftliche Produktivität erlaubt, und der ausgleichende Griff in die Staatskasse wird immer schwieriger. Ja gewiss, es wird immer noch kräftig verdient, es gibt Reiche, die reicher werden, in vielen Fällen ohne dass eine nachweisbare Leistung das rechtfertigt - das ist eine unleugbare Provokation. Doch jede wirtschaftliche Konstellation schafft sich ihre Erfolgstypen, die unschlagbar sind - solange sie anhält. Ihre Stärke ist die Unschlagbarkeit im Augenblick - sie sind den Kriegsgewinnlern vergleichbar, doch nur wenige von diesen konnten ihr Vermögen in den Frieden retten.

Aber rechtfertigt das alles schon den Gebrauch des Wortes "Schicksal" mit der ihm eigenen Schwere und Ausweglosigkeit? Wenn ganze Landstriche in Afrika trotz einer guten Baumwollernte hungern, dann ist eine solche Begrifflichkeit angemessen, doch hierzulande stagniert man einstweilen noch auf derart hohem Niveau, dass die Frage im Verdacht der Wehleidigkeit steht.

Leistet das Wort "Schicksal" überhaupt mehr, als dass es die Art und Weise bezeichnet, wie wir die nicht gerade angenehmen Veränderungen rings um uns erleben? Und dann: Eliminiert das Wort nicht die mit diesem vermeintlichen "Schicksal" verbundenen menschlichen Verantwortungen? Es gilt ja auch als Schicksal, wenn einer auf der Straße von einem herabstürzenden Ziegelstein erschlagen wird. Doch dahinter können sich recht verschiedene Szenarien verbergen, die man verschieden bewerten kann: Es kann tatsächlich ein völlig unvorhersehbarer Zufall sein, der hier einen Menschen zu Tode bringt. Es kann aber auch die Folge mangelnder Wartung des Hausdaches sein - dann wird die Affäre zwar für das Opfer schicksalhafte Dimensionen haben, der Staatsanwalt wird aber wohl einen Schuldigen anklagen. Und dann kann es sein, dass einer - etwa zwecks Abkürzung - sich seit Jahren auf einem Gelände bewegt, das eigentlich für Fußgänger gesperrt ist. Also: das Wort Schicksal ist so eindeutig nicht.

Und was bedeutet dieses Zauberwort für uns und unser Verhältnis zur Ökonomie? Gibt es wirklich noch Leute, die so realitätsfremd sind, sich und anderen einreden, der Kapitalismus sei uns aufgezwungen worden? Die aus der protestantischen Ethik erwachsene kapitalistische Mentalität offeriert uns eine Lebensform, in der Wohlstand und Risiko als siamesische Zwillinge auftreten. Ersterem verdankt der Kapitalismus seine Attraktivität; der zweite Aspekt wird in der Regel ignoriert, und das hat auch seine Berechtigung, solange das System funktioniert. Das heißt, umgelegt auf das Ziegelstein-Beispiel: Wir haben uns dafür entschieden, uns auf gefährlichem Grund zu bewegen. Die Zahl der alleine in den letzten hundert Jahren vorgeschlagenen Alternativen zum Kapitalismus ist Legion. Es hätte sehr wohl andere Optionen gegeben, aber entweder sind sie gescheitert, oder - und das ist wohl die Mehrzahl - ihre Anhänger sind über den Rang einer Sekte nicht hinausgekommen. Wer glaubt, dass es ihm gelingen wird, jetzt so en passant eine praktikable und akzeptierte Alternative aus dem Boden zu stampfen, ist ziemlich naiv. Aber wenn schon Kapitalismus, dann bitte ein ordentlicher.

Und da möchte ich in das kollektive Gejammer einmal die folgende Frage hineinwerfen: Kann ein Land, in dem ein Teil der Bevölkerung und der politischen Elite über Jahrzehnte sich entschlossen hat, das absurde, defizitäre Gebilde einer gigantischen verstaatlichten Industrie fortzuführen - ein Umstand, der uns finanziell und strukturell bis zum heutigen Tag belastet -, wirklich sein "Schicksal" beklagen, oder gibt es da nicht - wie im Ziegelstein-Beispiel - Schuldige mit Namen und Gesicht? Und zwar Schuldige, die nichts mit dem Allerweltssündenbock Neoliberalismus zu tun haben. Beiläufig angemerkt: Das Rudel der Exmarxisten, das den Neoliberalismus, den keiner so wirklich definieren kann, anschuldigt, hat die in unzähligen "Kapital"-Lesekursen eingepaukte Lehre vergessen, dass die ökonomischen Verhältnisse die Basis bilden und dass Politik, Ideologie und Kultur - und damit auch der Neoliberalismus - "Überbauphänomene" sind, die bestenfalls auf diese Basis rückwirken. Und wenn man schon beim Erinnern ist, dann sollte man den Exhegelianern auch einmal ins Gedächtnis rufen, dass dem Bestehenden eine eigene Vernunft zukommt. Oder, um es mit Max Weber zu sagen: Wir sind alle Gefangene des "eisernen Käfigs der Rationalität".

Wer will, mag weiterhin mit dem Begriff "Schicksal" hausieren gehen - ich möchte die Debatte um die Welt, in der wir leben, nicht in dieser Weise führen. Und noch etwas: Sosehr ich die Philosophie liebe, so suspekt ist mir die Anwesenheit der "Meisterdenker" des zwanzigsten Jahrhunderts in dieser Debatte. Der Existenzialismus, die Kritische Theorie, Ernst Bloch mit seinem "Geist der Utopie" - sind das wirklich Referenzdenker für die Lösung der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind? Obwohl sie mit mindestens zwei weltwirtschaftlichen Konstellationen konfrontiert waren, die um einiges gravierender waren, als das, was wir heute erleben - mit Inflation und Weltwirtschaftskrise -, und obwohl sie wohl auch über die intellektuelle Kapazität verfügten, sich damit auseinander zu setzen, finden wir doch - von Erich Fromms Untersuchung über "Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs" abgesehen - kaum Reflexionen über Krise und kollektive Mentalitäten. Oder hat Bloch wirklich ein Klagelied darüber angestimmt, dass jene Utopie, die mit dem Jahr 1918 verbunden ist, unwiderruflich gescheitert ist?

Es hat den Anschein, als ob jene guten Jahre - mit denen wir übrigens, Stichwort "sinnentleerte Konsumgesellschaft", keineswegs zufrieden waren - für einige Zeit unterbrochen sind, ja, vielleicht sogar ihr Ende erreicht haben. Das ist "Die Welt, in der wir leben", und ich würde gerne darüber diskutieren, wie wir mit dieser Lage unter Wahrung eines gewissen zivilisatorischen Anstands umgehen können. (Alfred Pfabigan/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27./28. 12. 2003)