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Palolo-Getümmel unter Wasser

Foto: Archiv

Samoa - Seit Tagen schon dröhnen die Trommeln, schallt der Gesang, stampfen die Tänzer. "Totelega" naht: die Nacht der Würmer. In einer langen Prozession ziehen Männer und Frauen zum Strand, bewaffnet mit Keschern, Körben und Lampen, und staken im Dämmerlicht durch das flache Wasser, in dem eine Million grüner Fäden zucken: Eunice viridis, "Palolos", Ringelwürmer. Genauer: deren Hinterteile. Einmal im Jahr lassen die bis zu 60 Zentimeter langen, an schleimige Spaghetti erinnernden Polychaeten, die als "Kaviar der Südsee" gelten, ihre mit Einern und Spermi- en beladenen Körperenden gleichzeitig zur Meeresoberfläche treiben, um sich zu paaren. In einer einzigen Nacht - meist in der Woche nach dem Vollmond im Oktober - tanzt die genau synchronisierte Wurmhochzeit über das Riff. Sie dauert nur wenige Stunden - und sichert den Fortbestand der Würmer: Der plötzliche Massenauftritt der Palolos überfordert selbst den Appetit der größten Fressfeinde.

Auch bei Schmetterlingen und Honigbienen, Eisfüchsen und Antilopen, Ziegen, Goldhamstern und Büffeln - insgesamt 600 Tier- und Pflanzenarten - haben Wissenschafter Indizien für lunar gesteuerte Verhaltensmuster aufgespürt: Der Mond wirkt mit seinem Licht und den Gezeiten auf das Leben ein.

Wie sich beides nutzen lässt, um die Zukunft der eigenen Spezies zu sichern, zeigt die weltweit verbreitete Felswattmücke Clunio, deren Problem ihre äußerst kurze Lebensspanne ist: Nach dem Larvenstadium trotzen die Mücken dem Tod nur zwei bis drei Stunden lang und schlüpfen daher einzig beim besonders starken Gezeitenwechsel der Springtiden: wenn Sonne und Mond in einer Linie stehen und so ihre Anziehungskraft bündeln, also in der Zeit um Voll- und Neumond. Dann fallen die Felsküsten, an denen Clunio-Larven leben, so weit trocken, dass die Tiere gefahrlos ausschwärmen, sich paaren und ihre Brut absetzen können.

Wie diese Mücken den Termin zum Gruppensex zuverlässig einhalten, hat der Kölner Zoologe Dietrich Neumann bereits vor über 15 Jahren entschlüsselt, indem er den Tag-Nacht-Zyklus in seinem Labor simulierte und mit einem zusätzlichen Lämpchen den Mondschein - und diesen als maßgeblichen Geburtshelfer identifizierte. Nun ist Neumann auf der Suche nach speziellen "Mondlichtrezeptoren" in den Nervenzellen der Insekten, um auch aufklären zu können, wie die Tieren zwischen Tag- und Nachtbeleuchtung unterscheiden.

Allerdings stellte der Kölner Forscher ebenfalls fest, dass sich ausschließlich Clunio-Arten aus südeuropäischen und subtropischen Breiten am Licht des Mondes orientierten - ein Stamm aus Helgoland nutzt vor allem den Rhythmus der Gezeiten, um die nächste Springtide vorauszusehen, und setzt dabei zwei genetisch geeichte "innere Uhren" ein. Die Helgoland-Mücken nehmen die Wellenbewegungen, Strömungen und Unterwassertöne wahr, die mit Ebbe und Flut wechseln und die sich alle 12,4 Stunden wiederholen.

Die meisten Wissenschafter gehen davon aus, dass den Zeit-Schaltkreisen ein sich selbst regulierendes Prinzip zugrunde liegt: Äußere Reize wie das Mondlicht und Flutwellen kurbeln nach und nach die Produktion von "Uhren"-Proteinen an, die über das Hormonsystem die Keimzellenentwicklung eines Tieres fördern. Haben die Proteine eine gewisse Sättigung erreicht, "bremsen" sie wiederum durch eine Art Rückkoppelung ihre eigene Produktion. (Lars Abromeit/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27./28. 12. 2003)