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Nicht immer kommt die Konstatierung nationalen polnischen Eigensinns ganz ohne Ironie aus: Im Bild ein Ausschnitt aus dem Video "KR WP" des Künstlers Arthur Zmijewski.

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Während sich die europäische Öffentlichkeit nach den EU-Verfassungsverhandlungen über den Eigensinn Polens irritiert zeigt, lohnt der Blick in die neuere, schöngeistige Literatur des Landes: Die bitteren Erfahrungen mit den Wechselfällen der Geschichte haben die polnischen Autoren Skepsis gelehrt.


Wien/Warschau - Die polnische Widersetzlichkeit in Sachen EU-Verfassung erntete nicht nur bei Befürwortern eines möglichst reibungslosen Einigungsprozesses Kopfschütteln und Widerwillen. Das störrische Selbstvertrauen eines an europäischen Traditionen gemessen immer noch "jungen" Nationalstaates erinnerte viele Kommentatoren - darunter nicht wenige flammende Fürsprecher einer deutsch-französischen EU-Dominanz - an die Scheuklappen eines maßlos geltungssüchtigen Nationalismus.
Der Blick auf polnische Besonderheiten und Empfindlichkeiten verdient, über den episodischen Anlass hinaus, andere Okulare: rußgeschwärzte genauso wie verführerisch glänzende oder verwirrend geschliffene. Polen verfügt wie die meisten anderen osteuropäischen Sprachkulturen über eine fast konkurrenzlos reichhaltige Literatur.

Der polnische Umgang mit einer durchwegs als Katastrophenabfolge erlebten Weltpolitik stockte das Arsenal an verfeinerten poetischen Sprechweisen geradezu spektakulär auf: Ein Land, das seine Eigenart vor allem in der rücksichtslosen Negierung seines nationalstaatlichen Selbstbewusstseins erleben musste, dem das Selbstbestimmungsrecht bis 1918 hartnäckig vorenthalten wurde, das Knechtung, Vernichtung und Brandschatzung von zwei Seiten erfuhr und sozialistisch verödete, gestattet sich den Nachvollzug seiner kollektiven Überlieferung - im Reich der Fantasie.
Die der Wirklichkeit indes erschreckend ähnlich sieht. Die aktuelle polnische Roman- und Prosakunst frönt weniger der neuen Herrlichkeit konsumgesellschaftlicher Segnungen. Sie beißt sich fest im Feld mikroskopischer Erkundung der eigenen, vielfach verschütteten Vergangenheit - und beklagt ohne falsche Sentimentalität den Verlust friedlichen, multiethnischen Zusammenlebens.

Helden und Poeten

Immerhin hatten nach 1918 Millionen Ukrainer, Deutsche und aschkenasische Juden in dem Land zwischen Bug und Weichsel ihre angestammte Heimat. Für Nationalhelden wie den notorischen Marschall Josef Pilsudski, den "Helden von Warschau" - er besiegte 1921 die Rote Armee - werden noch heute Büsten gemeißelt und Statuen gegossen. Auch wenn unter seiner autoritären Herrschaft der Parlamentarismus ausgehöhlt wurde: Juden Drangsalierungen ausgesetzt waren, Ukrainer vielfach aus dem Land komplimentiert wurden.
Autorinnen wie Olga Tokarczuk, deren spektakulär leiser Roman Ur und andere Zeiten längst als Taschenbuch erhältlich ist, übersetzen die grausamen Wechselfälle jüngerer und jüngster Historie in weitaus kühnere Modelle. Ihr mythologisch verbrämter Provinzroman aus der Gegend um Kielce rattert im Schutz jahreszeitlicher und naturkundlicher Zyklen in atemberaubender Geschwindigkeit durch das 20. Jahrhundert. Malt scheinbar naiv bäuerliche, naturmagische Sittenbilder - während in dieser Versuchsstation poetischer Weltausmessung der Genozid an den Juden Platz greift, der Staatssozialismus die Herzen verödet und sich die Sehnsucht nach kosmopolitischer Teilhabe an der unbekannten Welt draußen schüchtern, aber eigensinnig regt.
Im Schatten von Tokarczuks auch hierzulande gefeiertem Roman verfeinerte die Prosakünstlerin Maddalena Tulli das Konzept der poetischen Igelstellung. Aus der Perspektive einer fast kindlichen, neuschöpferischen Fantasie verwirrt Tulli in ihrem, an Robbe-Grillet oder Nathalie Sarraute erinnernden Gespinst Träume und Steine die durchdrehenden Zeiger auf der unbarmherzigen Uhr der Weltgeschichte.

In dem folgenden Roman In Rot (jetzt bei dtv) scheinen die Epochen seit Auslaufen der k. u. k. Monarchie wie in einer geschnitzten Schatulle nebeneinander aufgehoben: Wunderliche Tote kehren als Wiedergänger zurück auf den Schauplatz einer zerfallenden Weltordnung.

Wie überhaupt die Erfahrung des Sozialismus merkwürdig ausgespart scheint in diesen hauchzarten Vergegenwärtigungstexten. Der Sozialismus wird rückblickend als nicht poesiefähig erlebt. Auch in den Prosaskizzen - und mehr noch in den Gedichten - des Krakauers Adam Zagajewski (Ich schwebe über Krakau, verlegt bei Hanser) wird allen Versuchen heilsgeschichtlicher Vereinnahmung schmucklos abgeschworen.

Substanzen und Dinge

Auf den Spuren von Nobelpreisträger Ceslaw Milosz mengt Zagajewski den Substanzen und Gegenständen der Alltagswelt einen Geschmack von "Ganzheit" bei - genuin metaphysische Erfahrungen, die allen Doktrinen - auch der von der Heilkraft des kapitalistischen Marktes - strikt abschwören.
Und so muss man, in aller gebotenen Vorsicht, den polnischen Eigensinn als eine (unter mehreren) Form der Kompensationsleistung verstehen. Um die realpolitische Entfaltung der eigenen, heterogenen Kultur wenigstens bis 1989 geprellt, sieht sich die Fantasie auf die Kunst der Abschweifung verwiesen.

Vergessen scheint, dass ein Visionär wie Stanislaw Ignacy Witkiewicz in seinen Schriften das Heraufziehen des Totalitarismus bereits in den 20er-Jahren messerscharf diagnostizierte. Dass der ungebärdige Emigrant Witold Gombrowicz die Heimattümelei und Schwäche vieler seiner Landsleute hohnlachend schmähte. Dass Polen, das so oft geschundene und unterdrückte Land, über eine Tradition beißender Satire verfügt.

Die traditionelle Gottesfürchtigkeit weicht in den Werken der Intelligenz metaphysischer Gelassenheit. Polen - oft zerrissen, unter den Großmächten aufgeteilt, von zaristischer Willkür unterdrückt, von den Nazis gebrandschatzt, vom Sozialismus vertrocknet - hat es gelernt, allen Segnungen von oben mit Skepsis zu begegnen. So oder so: Die EU wird auf diese Fertigkeiten nur sehr schwer verzichten können. (DER STANDARD, Printausgabe vom 3./4.1.2004)