Wien - "Regalhaltung von Taschenbüchern ist Literaturquälerei", befindet manch zartfühlender Literatur-Liebhaber. Und schreitet zur Tat. Rund 66 Bücher wurden in den letzten Tagen allein in Wien in die Freiheit entlassen - auf dass ein Leser sie fände und mit sich nähme. So lehnte etwa Anna Mitgutschs Ausgrenzung am Donnerstagabend in einer regengeschützten Nische in der Goldschmiedgasse. Alle Seelen von Javier Marias wurde Mitte Dezember im Juridicum in die freie Leserbahn gesetzt. Und Dauerhaftes Morgenrot von Joseph Zoderer startete im Stephansdom in ein Leben der Regallosigkeit.

Bookcrosser nennen sich die freiheitsliebenden Buchaktivisten. Rund 197.000 von ihnen setzen mittlerweile in gut 130 Staaten der Erde Literatur frei. Über 744.000 Bücher in den letzten drei Jahren. Der Gedanke dahinter ist ein ebenso künstlerischer wie verspielt aufklärerischer: die Verwandlung des öffentlichen Raums in eine globale Bibliothek. Zur freien Entnahme für jedermann.

Damit die Reisen der Bücher verfolgbar bleiben, werden diese, wie freigesetzte Vogelschwärme, vorab markiert: jedes Buch erhält eine offizielle BCID - eine Bookcrosser-IDnumber -, mit deren Hilfe der Finder, so er Lust daran hat, sich, anonym, in der Community melden und seine Leseerfahrung kundtun kann. Denn die Bookcrossing-Bewegung ist eine der ingeniösen Erfindungen des Netzzeitalters.
Vor knapp drei Jahren, genau am 17. April 2001, vom Amerikaner Ron Hornbaker gegründet, vergrößert sich die Gemeinschaft heute im Minutentakt. Rund 300 neue Mitglieder weltweit lassen sich täglich auf der Homepage der Bookcrosser, www.bookcrossing.com, registrieren. Und nur die Hälfte von ihnen lebt in den USA. Zumal im lesehungrigen Europa greift die Lust an der Buchbefreiung um sich. Favorit unter den nicht-englischsprachigen Staaten ist mit (am 2.1.04) 9.853 Mitgliedern Italien, unmittelbar gefolgt vom Mutterland des Buchdrucks, von Deutschland mit 9.733 Bookcrossern.


Geeignete Nischen

In Österreich hingegen ist die Freude am Loslassen des höchsteigenen Buchbesitzes noch etwas gedämpft: Gerade einmal 442 bekennende Buchbefreier tasten das Land mit ihren Blicken nach geeigneten Plätzen ab. Wobei die Lust des Bookcrossers durchaus auch in der Wahl geeigneter Orte liegen kann: Thomas Bernhards Wittgensteins Neffe etwa mag sich wiederfinden auf einem der durchgewetzten Sitzpolster des Bräunerhofs, die Alten Meister im Kunsthistorischen Museum, Josef Winklers Werke auf der hölzernen Bank eines Beichtstuhls irgendwo im wilden Kärnten . . .


Secret Sunset Mission

Mitunter verabredet die Community im netz-eigenen Forum auch gemeinsame Aktionen. So mag es vorkommen, dass am 23. April, dem Geburtstag Shakespeares, weltweit Romeos und Julias auf unbekannte Leser warten. Der Kreativität der Mitglieder sind kaum Grenzen gesetzt. Verabredungen für SSMs, Secret Sunset Missions, entstanden daraus ebenso wie eine Sammelaktion für die Erneuerung jener Schulbibliotheken, die in den Überschwemmungen des Friaul versanken.

Und auch Verlage und Buchhandlungen haben kein Nachsehen: Nicht wenige Bookcrosser nämlich kaufen Bücher doppelt, um dem sentimentalen Hang zur eigenen Sammlung ebenso Genüge zu tun wie der Begeisterung für die Welt-Bibliothek. Oder sie kaufen Bücher, die auf den Rezensionsseiten des Forums beschrieben werden. Denn nicht zuletzt versammelt Bookcrossing Tausende von enthusiastischen Lesern mit Spezialgebieten der unterschiedlichsten Natur. Neben der Science Fiction-Gemeinde entfalten die Mittelalter-Experten ihr Wissen. Weshalb kaum ein Buch in Bookcrosser-Kreisen als schlecht gilt, schließlich: "One man's trash is another man's treasure".

Neben den virtuellen existieren übrigens auch leibhaftige Kontakt-Zentren, OBCZs, im Bookcrosser-Chargon, also "offizielle Bookcrossing-Zonen". Wiens erste OBCZ liegt in der Marc-Aurel-Straße, bei Pickwicks. Dort treffen sich Österreichs engagierteste BCler einmal im Monat. Jüngster Plan der Wiener Community: die Eröffnung einer Kinder-und Jugend-Bookcrossing-Zone. Denn weist die hochoffizielle Statistik den durchschnittlichen Crosser auch als 31,4-Jährigen aus, surfen durchaus auch engagierte 7-jährige Buchaktivisten. Und setzen ihren Harry-Potter frei. Oder begeben sich auf die Pirsch. Denn jedes freigesetzte Buch kann, den Angaben auf der Homepage folgend, natürlich auch erjagt werden. Und als Beute einkehren in des Jägers warme Stube. Bis zum nächsten Aufbruch. (DER STANDARD, Printausgabe vom 3./4.1.2004)