Wien - Die Kunstschätze der Rothschilds waren so ziemlich die wertvollsten in Österreich: Laut NS-Inventarlisten bestanden die 1938 "sichergestellten" Sammlungen von Alphonse und Louis Rothschild aus 4363 Posten. Nach dem Weltkrieg kam es zur Restitution. Doch die Rothschilds waren in die USA emigriert: Um eine Ausfuhrgenehmigung der Sammlungen zu erhalten, sah sich die Familie gezwungen, die wertvollsten Objekte (darunter drei Porträts von Frans Hals) diversen Museen und der Österreichischen Nationalbibliothek zu widmen.

Erst im Februar 1999 erhielten die Erben diese 250 Objekte zurück. Und mehrere Bundesländer, darunter Niederösterreich und die Steiermark, folgten: Es wurden auch alle bis dahin nicht restituierten Gegenstände zurückgegeben. Der Fall Rothschild schien spätestens 2002 zu den Akten gelegt werden zu können.

Doch mitnichten: In der ÖNB befinden sich, wie eine Autopsie der Sammlungsbestände durch die Historikerin Margot Werner ergab, nach wie vor drei Handschriften, sechs alte Druckschriften mit wertvollen Einbänden, drei Partituren, insgesamt 26 Signaturen aus der Sammlung von Alphonse Rothschild. Sie wurden bisher wohl absichtlich übersehen - und werden auch nicht im Provenienzbericht aus dem Jahr 1998 erwähnt, den eine ÖNB-Mitarbeiterin erstellt hatte.

An diesem Beispiel zeigt sich der Umgang der Republik mit entzogenem Gut: Zurückgegeben wurden zumeist nur die zurückgeforderten Gegenstände. Rothschild-Anwalt Karl Trauttmansdorff wusste aber nichts von der Existenz des erwähnten Bestandes: Er ging von der Vollständigkeit der NS-Inventarlisten aus, da die im Zentraldepot gelagerten Sammlungen unter "Führervorbehalt" gestellt worden waren. Am 28. November 1946 fragte er daher bloß bezüglich der sieben Handschriften nach, die 1941 auf Bitte des damaligen Direktors in die ÖNB kamen.

Tatsächlich aber hatten die NS-Schergen nicht die gesamte Rothschild-Bibliothek ins Zentraldepot verbracht: Einige Objekte müssen direkt in die ÖNB gelangt sein. Trauttmansdorff darüber in Kenntnis zu setzen verzichtete man geflissentlich: Am 16. Dezember 1946 wurde lediglich bestätigt, die gesuchten sieben Handschriften in Verwahrung zu haben. Obwohl die Existenz der drei weiteren ins Auge gestochen sein musste: Sie tragen die Signaturnummern 2838 bis 2840 - und waren unmittelbar vor den anderen (2841 ff.) verzeichnet.

Der Besitz dieser drei Handschriften musste in einem 1963 gedruckten ÖNB-Katalog aber irgendwie begründet werden - und zwar mit dem Verweis "Geschenk der Erben Rothschilds 1946". Doch damals gab es keine Schenkungen: Der Anwalt hatte doch erst Ende November mit der ÖNB Kontakt aufgenommen.

"Ruhig weiter lagern"

In ihrem exemplarischen Bericht (DER STANDARD berichtete vor zwei Wochen) dröselt Margot Werner noch viele weitere Fälle auf: In der ÖNB befindet sich u. a. ein Bestand von rund 15.000 Fotografien des Journalisten Raoul Korty, der nie aufgearbeitet wurde. 1952 fragte der Leiter der Porträtsammlung in der Generaldirektion an: "Ist eine Verjährung der Besitzrechte zu gewärtigen? Diesfalls würde ich die Sammlung ruhig weiter lagern lassen, bis sie heimfällt, und dann durchprüfen." Man wusste allerdings, dass Kortys Tochter Anspruch erhoben hatte - und sie tat es immer wieder bis 1980. Die Rückstellung wurde zwar in Aussicht gestellt, doch es kam nie dazu.

Von der einverleibten Spezialbibliothek mit 3000 Bänden des berühmten Albanologen Norbert Jokl konnte Margot Werner neben dem kompletten Nachlass zumindest 170 Druckschriften und zehn Fotografien ausfindig machen. 1946 hatte die ÖNB bei der "Anmeldung entzogener Vermögen" angegeben, Erben seien "angeblich nicht vorhanden". Tatsächlich hatte Jokl die Bibliothek dem albanischen Staat vermacht (laut der Reichskanzlei in Berlin in einem Brief an die ÖNB 1942). Über den letzten Willen setzte sich also nicht nur das Dritte Reich hinweg, sondern in der Folge auch die Republik.

Nicht nur "Juden" sind also die Geschädigten: 1943 wurde in der Wohnung von Stefan Auspitz, der ins KZ deportiert worden war, eine Bibliothek mit 4800 Bänden sichergestellt. Doch diese, von der ÖNB erworben, gehörte bereits seit 1931 dem Schweizer Harald Reininghaus. 1947 wurden ihm bloß 3331 Bücher zurückgegeben. Weitere 40 machte man nun ausfindig. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.1.2004)