Graz - Wenn Menschen mit
körperlichen oder geistigen
Einschränkungen etwas aus
der Apotheke brauchen, ist
das für sie meist mit enormen
Anstrengungen verbunden.
Vom Betreten des Geschäftslokals bis hin zum Verkaufsgespräch tauchen je nach Behinderung verschiedenste Hürden auf, die für andere Menschen kein Thema sind. Eine
der ältesten Apotheken von
Graz, die Mohrenapotheke am
Südtirolerplatz, wird ab Ende
Jänner zum österreichweiten
Herzeigeprojekt für Barrierefreiheit auf allen Ebenen.
Dass Rollstuhlfahrer und
natürlich auch Eltern mit Kinderwägen ungehindert durch
die sich automatisch öffnende
- und von einem akustischen
Signal begleitete - Tür fahren
können, ist dabei nur der Anfang. Christian Müller, der Besitzer der 290 Jahre alten Apotheke, die kürzlich einen futuristischen Nachbarn in der
blaubäuchigen Gestalt des
Grazer Kunsthauses bekam,
ist bereits die dritte Apothekergeneration in seiner Familie - sein Großvater hatte Apotheken in Wien und auf Kuba.
Projekt "Stuhlgang"
Abseits seines Pharmazeutendaseins arbeitet der Enkel,
der mittlerweile selbst vier
Kinder hat, seit vielen Jahren
mit Menschen mit Behinderungen. Nach Anfängen bei
den "Pfadfindern trotz allem"
setzte er sein Engagement vor
allem für Jugendliche mit Behinderung während des Studiums in seiner 1996 gegründeten Theatergruppe "Stuhlgang" fort. Das Credo der gemeinsamen Theaterarbeit war
dabei immer, "die Leute nicht
einfach nur so einzusetzen,
wie es ihren Möglichkeiten
entspricht, sondern in der
Gruppe eine gemeinsame
Sprache zu finden".
Eine Sprache zu finden, die
bestimmte Teile der Bevölkerung nicht ausschließt, war
auch ein Thema bei der neuen
Ausstattung der Apotheke.
Müller weiß, wie viele Menschen sich mit den Beipacktexten ihrer Arzneien plagen:
"Betroffen sind nicht nur
Menschen mit kognitiven Einschränkungen, sondern auch
die hohe Dunkelziffer jener
mit strukturellem Analphabetismus." In einer Arbeitsgruppe mit dem Sozialverein Isop
ging Müller der Frage nach,
wie man "eine Apotheke so
unterschwellig gestalten
kann, dass sich auch Leute,
die sich kaum außer Haus
trauen, weil sie nicht lesen
können, wohl fühlen".
Ein Umdenken in der Warenpräsentation war eine Folge davon. Mit großen Bildern
zu arbeiten ist hier eine Lösung, die auch für Menschen
mit altersbedingter Sehschwäche Erleichterung bringt. Ein
in Schweden entwickeltes
Piktogrammsystem, das Müller noch selbst um spezielle
Hinweise für Dosierungen
und Bestandteile erweitern
will, wird als Medium ausprobiert: "Wenn gewünscht, bekommen die Leute den Beipacktext auch auf CD, um ihn
sich zu Hause vorlesen zu lassen." Neue Glasvitrinen mit
rezeptfreien Produkten zur
Selbstbedienung sind zudem
mit Brailleschrift versehen.
Gebärdensprache
Für Träger von Hörgeräten
wird eine Induktionsanlage
zur Verfügung stehen, die störende Nebengeräusche beim
Verkaufsgespräch ausblendet.
Aber damit nicht genug: Das
achtköpfige Team der Mohrenapotheke übt auch seit einiger Zeit fleißig Gebärdensprache, wie Müller erzählt:
"Standardsätze wie ,Wo haben
Sie Schmerzen‘ haben wir
schon gelernt." So viel Engagement wird hoffentlich -
auch nach dem Jahr der Menschen mit Behinderung -
Nachahmer finden. Doch Müllers Team hat die Latte hoch
gelegt: Einfach nur eine Rampe bauen wird nicht genügen. (Colette M. Schmidt/DER STANDARD, Printausgabe, 8.1.2004)