Der in Wien lebende tschechische Künstler Abbe Libansky veranstaltete im Jahr 2002 eine Kunstaktion an der österreichisch-tschechischen Grenze bei Fratres, bei der er 200 Gipsbüsten des früheren tschechoslowakischen Praesidenten Edvard Benes entlang der Grenze als Warnung "gegen die Grenzen in unseren Köpfen" aufstellte.

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Standard: Warum sind die Benes-Dekrete ständig ein so empfindliches Thema zwischen Tschechien, Österreich und Deutschland?

Kural: Die Reden über Leid und Recht auf Eigentum hören sich gut an und sind einfach zu verstehen. Besonders für Bayern ist es ein traditionelles Wahlkampfthema, die Ausgesiedelten stellen dort eine Million Stimmen dar. Es ist dort auch eine Reihe von Funktionären herangewachsen, die davon gut leben. Es muss jedoch gesagt werden, dass die Sudetendeutsche Landsmannschaft nach dem Antritt des deutschen Kanzlers Gerhard Schröder die Richtung des Hauptangriffs nach Österreich übertrug, und die Angriffe gegen uns begannen auch von dort.

Das österreichische Parlament verurteilte die ganze Aussiedlung, und wir haben eine bestimmte gegen uns gerichtete nationale Euphorie gespürt. Jetzt scheint es mir schon ruhiger, aber zwei Streitpunkte, die Benes-Gesetze und das Atomkraftwerk Temelín, bleiben bestehen.

Standard: Was ist Ihre Meinung zu diesen zwei Streitpunkten?

Kural: Was die Benes-Dekrete bzw. die Gesetze betrifft, denke ich, dass diese Frage schon durch die positive Stellungnahme der Kommission mit dem deutschen Jusprofessor Jochen Frowein an der Spitze über die Tauglichkeit der Tschechischen Republik, der Europäischen Union beizutreten, und durch die nachfolgende Abstimmung des Europäischen Parlaments eindeutig gelöst worden ist. Ich bin kein Fachmann hinsichtlich Temelín, ich weiß selbst nicht, was damit anzufangen ist. Ich habe die Angst vor einer Panne wie in Tschernobyl erlebt, aber ich verstehe, dass die Tschechische Republik die Möglichkeiten der Wasserenergie wie Österreich nicht hat. Außerdem zeigen Erfahrungen aus Frankreich und aus Deutschland, dass Atomkraftwerke ungefährlich funktionieren können.

Standard: Wie kommen in Tschechien die Proteste in Österreich gegen Temelín an?

Kural: Wilde österreichische Proteste tun den guten Nachbarbeziehungen nicht wohl, außerdem kann der Widerstand gegen Temelín auch nur ein Vorwand sein. Ich sehe die einzige Lösung in konsequenten internationalen Kontrollen der Sicherheit des Kraftwerkbetriebs, und nicht nur in Temelín.

Standard: Warum lehnen Sie ab, ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zu schaffen?

Kural: Ich würde mich gern irren, aber ich bin überzeugt, dass das Wesen dieser Ausstellung das Streben sein wird, die deutsche Schuld im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg zu relativieren. Gegenwärtig findet nämlich in Deutschland die Bemühung um die Revision des Bildes der Deutschen während des Krieges statt, das die große und nützliche Selbstkritik in den 60er-Jahren geschaffen hat. Man relativiert den Umgang mit den Juden, denen Schuld zugeschrieben wird. Man hebt auch das große Leiden der Deutschen während des Krieges hervor. Es war tatsächlich schrecklich, und sie haben viel gelitten. Man muss sich jedoch bewusst werden, dass dies die Folge der Verbrechen war, die vorher stattgefunden hatten.

Standard: Sie sind also gegen ein Denkmal?

Kural: Berlin ist meiner Meinung nach als Standort nicht geeignet. Wenn es zum Beispiel in Polen entstehen würde und international wäre, bin ich überzeugt, dass dann die Geschichte objektiver präsentiert würde. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es am richtigsten wäre, ein Denkmal für alle Opfer des Zweiten Weltkriegs bzw. für Opfer aller Kriege zu bauen. Ohne das riesige Leiden der Deutschen hervorzuheben, das auch als ein Bestandteil der antitschechischen Kampagne verstanden werden kann.

Standard: Ist es nicht an der Zeit, einen dicken Strich zu ziehen und anzufangen, sich im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik im Mai mit der Zukunft zu befassen?

Kural: Für die Geschichte kann kein dicker Strich gelten, wir müssen uns um eine möglichst objektive Auslegung der Geschichte ständig bemühen, aus der man für nächstes Mal lernen kann. Die tschechischen Politiker haben leider in den vergangenen zehn Jahren in dieser Richtung viel vernachlässigt. Im Ausland weiß man über unsere Geschichte nicht viel, was gerade die Anhänger des Nationalismus gegen uns ausnützen. Wir bemühen uns, ihre Behauptungen zu widerlegen, wir haben einige unserer Bücher ins Deutsche übersetzt und sie auch im Europäischen Parlament verteilt. Aber die Buchhandlungen in deutschsprachigen Ländern haben kein Interesse, sie zu verkaufen, obwohl sie damit minimale Aufwendungen hätten.

Standard: Denken Sie, dass sich die Situation nach dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik bessern wird?

Kural: Ich würde gerne glauben, dass in der Europäischen Union eine neue Chance entsteht, sich gegenseitig mehr zu verstehen, und dass sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern langsam verwischen werden. Die historische Rolle der Deutschen in Mitteleuropa war auch trotz der Gräuel der Kriege und der nazistischen Okkupation vor allem produktiv. Ich hoffe, dass Deutschland in der EU seinen nützlichen Einfluss beibehalten wird.

Die Tschechische Republik geht in die EU in der Position eines schwächeren Landes. Wir würden stärkeres Selbstbewusstsein brauchen, aber da kann man nichts machen. Wir müssen uns bemühen, dies zum Beispiel durch die Kooperation mit den Niederlanden, Dänemark, dem Visegrader Vierer und mit Österreich zu kompensieren. Ich glaube, es wird gehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.1.2004)